Demonstrationen vor dem Theater, Drohbriefe an den Intendanten und die Schauspieler. Schon vor der Premiere waren die Zeitungen mit seitenlangen Berichten voll, es gab Leserbriefe und Anschuldigungen. Und am Tag der Premiere zogen 6000 meist junge, gutangezogene Männer durch die Basler Innenstadt, mit Fackeln und Transparenten. Zum Protestmarsch aufgerufen hatte die «Aktion junger Christen für den konfessionellen Frieden».
Auf den Bildern liest man Slogans wie: «Hat Rolf Hochhuth die Geschichtsstunden geschwänzt?», «Der Stellvertreter muss abgesetzt werden!!». Da steht: «Der Stellvertreter verstösst gegen Artikel 50 der Bundesverfassung. Er stört den konfessionellen Frieden. Was aber tut unser Kanton?» oder: «Fort aus Basel - mit dem Gefasel».
Die Kirche anzuklagen: Ein Tabubruch
Schon die Uraufführung des Stückes in Berlin im Februar 1963 hatte Debatten ausgelöst. In seinem ersten Theaterstück klagte der gerade mal 32-jährige Rolf Hochhuth Papst Pius Xll an, während des Zweiten Weltkrieges angesichts der systematischen Judenermordung geschwiegen zu haben und bezieht sich dabei auf historische Dokumente.
Es war nicht die literarische Qualität des Textes, weshalb das Theaterstück weit über das Theater hinaus zu Debatten Anlass gab, sondern sein Stoff: Rolf Hochhuth hatte ein Tabu gebrochen und damit eine Eiterbeule aufgestochen. Vieles mag schon davor geschwelt haben. Doch die Geschichte war damals noch nicht aufgearbeitet, die Taten in der Vergangenheit noch weitgehend verdrängt und die Gesellschaft moralisch wund.
Politisches Theater: 63 war (noch) nicht 68
Von heute aus gesehen ist die Heftigkeit der Diskussionen und Debatten kaum noch nachvollziehbar. Und faszinierend. Anfang der 60er Jahre war die Gesellschaft noch in starken Normen und Mustern gefangen. Gerade in der Schweiz.
Rolf Hochhuth erinnert sich daran, dass es nirgendwo sonst wie in Basel solche Tumulte gab: «Der Direktor des Theaters, Dr. Friedrich Schramm, hatte nicht einkalkuliert, dass es in Basel eine Minderheit von Katholiken gab. Diese fühlten sich durch mein Stück angegriffen und reagierten sehr aggressiv.»
Als Debut ein Jahrhundertstück
Es war das richtige Stück zum rechten Zeitpunkt. Heute wird «Der Stellvertreter» kaum noch gespielt. Und auch die Theaterstücke, die Rolf Hochhuth in den folgenden Jahrzehnten mit ähnlichen politikkritischen Inhalten geschrieben hat, stehen nur selten auf den Theater-Spielplänen. Doch mit dem «Stellvertreter» hat Hochhuth es in die Theatergeschichte geschafft: Als Protagonist der Anfänge des politischen Theaters der 60er Jahre.
Für ihn selbst und seine Karriere bedeutete, von heute aus gesehen, dass er in so jungen Jahren von einem Moment auf den anderen so berühmt wie umstritten war, ein Segen wie ein Fluch. Denn an die Aufmerksamkeit und Wirkung seines Erstlings konnte Hochhuth nie mehr anschliessen und wenn er heute in den Medien ist, dann meistens mit selbstinszenierten Skandälchen und Geschichten, die mit der Zeit- und der Theatergeschichte nur noch lose verbunden sind.