Es sei eines der grausamsten Verbrechen der schweizerischen Kriminalgeschichte, schrieben Zeitungen 1957 über den Mord an Peter Stadelmann, einem Ostschweizer Landmaschinenverkäufer, der damals in Rohr bei Aarau lebte.
Max Märki und Ragnhild Flater, ein junges Liebespaar, wollten Stadelmann Geld abknöpfen. Der Raub geriet aber ausser Kontrolle. Die beiden schlugen Stadelmann halb tot und warfen ihn von der Brücke zwischen Birmenstorf und Mülligen in die Reuss, wo er ertrank.
Im Buch «Revolverchuchi» arbeitet Autor Peter Hossli die Geschichte rund um den aufsehenerregenden Kriminalfall akribisch auf. Dabei schildert Hossli nicht nur detailliert den Fall, den er anhand von Akten genau rekonstruieren kann, sondern erzählt auch vom gesellschaftlichen Umfeld der 1950er-Jahre und dem Milieu, aus welchem die Mörder stammten.
Märki, damals 25-jähriger Gipser aus Unterbözberg, verschuldet, unglücklich verheiratet, Vater von drei Kindern, wuchs in zerrütteten Familienverhältnissen auf. Er habe zeitlebens Liebe und Anerkennung gesucht und habe aus der Armut ausbrechen und nach Amerika auswandern wollen, schreibt Autor Peter Hossli.
Ragnhild Flater stammte aus einem abgelegenen norwegischen Dorf, wollte eigentlich in der Schweiz die Hotelfachschule besuchen, musste dann aber in Luzern als Hilfsköchin arbeiten und wurde von Märki, den sie liebte, schwanger. Nicht zuletzt erzählt Hosslis Tatsachenroman auch diese fatale Liebesgeschichte zwischen zwei jungen Menschen.
SRF: Sie schildern in «Revolverchuchi» das Leben in der Schweiz in den 1950er-Jahren, als man sich im Turnverein kennenlernte, als viele Menschen zum Telefonieren ins Restaurant gehen mussten, weil sie noch keinen Apparat zu Hause hatten, und als es noch viele kinderreiche Familien gab, weil man die Pille zum Verhüten noch nicht kannte. Besonders eindrücklich, und schlimmer noch als die Schilderung vom Mord, fand ich eine Schilderung einer illegalen Abtreibung mit einem Schlauch und Seifenlauge. Sie haben sich jetzt intensiv mit dieser Zeit befasst, was fanden Sie besonders schockierend oder faszinierend?
Peter Hossli: Dass es im Kanton Aargau damals immer noch ein sehr armes Milieu gegeben hat. Die Schweiz war zweigeteilt. Zum einen gab es das Wirtschaftswunder nach dem Krieg, eine Aufbruchstimmung, die Zeitungen waren voller Inserate für neue Autos. Zum anderen gab es eine grosse andere Gruppe, Arbeiterinnen und Arbeiter, die ärmlich waren und ausbrechen wollten aus ihrem Leben. Um diesen Mord verstehen zu können, muss man diese Zeit verstehen. Der Max war einer, der ausbrechen wollte und mit der Frau, die er kennengelernt hatte, nach Amerika flüchten wollte, er hatte aber kein Geld.
Max Märki hatte eine schlimme Kindheit, war zeitweise im Kinderheim Brugg, wurde von der Stiefmutter geschlagen, er war verschuldet, hatte schon drei Kinder mit seiner Frau, seine Geliebte erwartete ein weiteres und es fehlte Geld. Haben Sie denn heute, nachdem Sie den Fall rekonstruiert haben, Verständnis für die grausame Tat?
Das ist eine gute Frage, die ich mir auch immer wieder gestellt habe. Ich wollte nicht ein verurteilendes Buch schreiben über Max Märki und seine Geliebte, die Grausames gemacht haben. Sondern ich habe versucht, Max Märki zu verstehen. Und als ich die Akten durchgeschaut habe, habe ich Max Märki – das ist jetzt vielleicht ein komisches Wort – auch ein bisschen gern bekommen. Er war kein böser Mensch. Er wollte die Armut hinter sich lassen. Er hat eigentlich recht viel richtig gemacht in seinem Leben. Aber sein Geschäft ging Konkurs, deshalb verlor er seinen Rang im Militär, und dann kippte es.
Sie erzählen eine True-Crime-Story. Warum sind solche Geschichten über Verbrechen, die tatsächlich passiert sind, gerade so beliebt?
Ich kann nur für mich sprechen. Mein Schwiegervater hat mir diese Geschichte beim Weihnachtsessen 2017 erzählt. Und sie hat mich nicht nur wegen des Verbrechens völlig fasziniert, sondern auch wegen der grossen Liebesgeschichte, weil sie in einer Zeit verortet ist, die man nicht gut kennt, und weil sie in der Region passiert ist, in der ich aufgewachsen bin, in der Region Baden.
Man liest ein Buch anders, wenn man die Region kennt, in der eine Geschichte spielt. Das nächste Mal, wenn ich in Brugg neben dem Bahnhof den Betonklotz der Migros sehe, werde ich daran denken, dass der Mörder auf dieser Baustelle gearbeitet hat. Oder auf der Brücke zwischen Birmenstorf und Mülligen werde ich daran denken, wie hier 1957 ein halbtoter Mensch in die Reuss geworfen wurde.
Ganz genau. Diese Auseinandersetzung mit der eigenen Heimat hat mich fasziniert. Ich habe zwölf Jahre als Korrespondent in New York gelebt und Geschichten produziert auf allen fünf Kontinenten, aber das hier war wie ein Homecoming, ein Nachhausekommen. Ich habe alle Tatorte besucht. Zum Beispiel ging ich an genau jenem Tag an die Reuss, an dem die Leiche gefunden wurde, damit ich die Verfärbung der Blätter und des Mooses sehe. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Heimat hat mich angetrieben, dieses Buch zu schreiben.
Wir lesen häufig in Zeitungen oder online kurze Artikel zu Verbrechen und meinen dann zu wissen, was passiert ist, erlauben uns nach wenigen Zeilen schon ein Urteil über eine Sache oder einen Menschen. Ihr Buch zeigt, dass die Meinung, die wir uns bilden, vielleicht nicht immer stimmt. Ist das auch eine Kritik an uns Leserinnen und Lesern, dass wir uns von einer kurzen und knackigen Nachricht zu schnell verführen lassen?
Dieser Fall ist ein gutes Beispiel dafür. In der Berichterstattung damals über den Mordfall hatte es sehr viele Fehler, wenn man heute mit den Akten vergleicht. Jede Geschichte, wenn man sie aus Distanz betrachtet und Zugang hat zu Akten, präsentiert sich anders. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass in 20, 30 oder 50 Jahren ein Buch geschrieben wird über den Mordfall Rupperswil, und dass man dereinst auch diesen Fall anders betrachten wird, wenn es dann Informationen geben wird, die man heute in den Medien nicht hat.
Und dann sieht man in 20 oder 30 Jahren auch den Menschen hinter dem Monster?
Ja. Die Medien machten damals Max Märki sofort zum Monster. Sie machten das Auto, in dem das Verbrechen geschah, zur «Folterkammer auf Rädern». Mit der Figur Max hat man sich aber nicht auseinandergesetzt. Und das ist auch heute oft so. Es kommt zu einem Mord, es gibt eine Schlagzeile, und man vergisst es wieder. Ich habe versucht, aus einer Distanz von 60 Jahren auf diese Figur einzugehen. Das hat mich angetrieben bei diesem Projekt.
Das Gespräch führte Marco Jaggi.