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Disput um Geschichtsschreibung Buch wegen 7 von 160 Seiten aus dem Verkehr gezogen

2500 Bücher über das «Knabenheim auf der Grube» in Niederwangen (BE) landeten in der Entsorgung. Ist das vertretbar?

Die Knabenerziehungsanstalt «Gruebe» in Niederwangen steht für ein dunkles Kapitel in der Zeit der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Vor mehr als 200 Jahren war es eine Anstalt für arme, verlassene Kinder und Waisen. Danach ein Kinderheim für Waisen und verwahrloste Kinder aus armen Familien.

Prügel und Autorität

Die Geschichte der «Gruebe» hat der Berner Journalist und Autor Fredi Lerch mit aufgearbeitet. Das Buch wurde 2013 publiziert. In der «Gruebe» wirkten laut Lerch über Jahre Pioniere und Pädagogen, Idealisten und Sadisten, Frömmler und Fürsten zusammen. Die Prügelstrafe war normal, Autorität wurde hochgehalten. Seit 2013 ist das Heim geschlossen.

Hans-Peter Hofer war zwischen 2000 und 2005 Heimleiter «auf der Grube». Er übernahm von einem Heimleiterehepaar, das seit 1966 den Betrieb leiteten.

Hofer und Lerch trafen sich im Februar 2017 vor der Schlichtungsbehörde Bern-Mittelland. Die anderen Mitautoren waren nicht dabei. Hofer sah sein Wirken als Heimleiter falsch dargestellt. Die Darstellung auf sieben von 160 Seiten sei rufschädigend und er sei von Lerch nie kontaktiert worden.

Lerch sagt dazu gegenüber dem Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, sein Auftrag sei es gewesen, über die fast 200-jährige Geschichte der Institution eine Chronik zu schreiben. Er habe grundsätzlich mit schriftlichen Quellen gearbeitet. Sein Zugang sei chronistisch und nicht journalistisch gewesen.

2500 Exemplare vernichtet

Mit der Vereinbarung verpflichteten sich der Autor, der Verlag und die Herausgeberin, das Buch nicht weiterzuverbreiten. Wie die «Berner Zeitung» kürzlich schrieb, landeten die verbliebenen 2500 Exemplare in der Entsorgung. Publizist Lerch bedauert es heute, dem Vergleich zugestimmt und damit seinen Text und das Buch verraten zu haben.

Kürzlich haben sich ehemalige Heimbewohner für ihr Buch gewehrt. Denn dieses war eigentlich ihnen gewidmet.

Zulässig oder nicht?

Deswegen hat sich nun ein neuer Disput entwickelt. Darf ein Buch einfach aus dem Verkehr gezogen werden? Darf so die Geschichtsschreibung beeinflusst werden? «Das Buch ist ein historisches Dokument, das zugänglich sein muss», sagt zum Beispiel Medienjurist Willi Egloff.

Der Hintergrund

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Auf der Grube in Niederwangen bei Bern wurden besonders sozial auffällige, verwahrloste oder schwer erziehbare Kinder plaziert.

In der Schweiz wurden jahrzehntelang viele Waisen, Scheidungskinder, uneheliche Kinder, Kinder von Fahrenden oder aus Armut verwahrloste Kinder in Heimen und als Verdingkinder fürsorgerisch fremdplatziert.

Verdingkinder dienten oft bei Bauernfamilien als billige Arbeitskräfte. Häufig wurden diese Kinder ausgenutzt, misshandelt und missbraucht.

Historikerin Tanja Rietmann hat die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aufgearbeitet. Sie sagt, das umstrittene Buch sei ein Baustein von vielen, der nötig sei, um die Geschichte der Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz aufzuarbeiten.

Mehr als klassische Geschichtsschreibung

«Das Anliegen des Buches war es, den ehemaligen Kindern der Grueb eine Widmung und damit eine Entschuldigung auszusprechen», so Rietmann. «Das Buch ging also wesentlich weiter, als die klassische Aufarbeitung der Geschichte.»

Die Forschung geht davon aus, dass in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert mehrere Hunderttausend Kinder von einer Fremdplatzierung betroffen waren. «Die Geschichte ist riesig und bisher gibt es nur wenige Studien dazu», sagt die Historikerin.

Regionaljournal Bern Freiburg Wallis, 6:31 Uhr ; 

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