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Expressionistischer Meister Als Ernst Ludwig Kirchner der Metropole Berlin verfiel

Er ist einer der ganz Grossen: Und im Kunsthaus Zürich sind derzeit die grössten Bilder des grossen Kirchner in einer Ausstellung zu sehen. Etwas jedoch fehlt.

  • Das Kunsthaus Zürich zeigt eine Auswahl an Bildern, die Ernst Ludwig Kirchner von 1911 bis 1917 in Berlin gemalt hat.
  • Die Werke zeigen die Faszination, die das pulsierende Leben in der Metropole auf Kirchner ausübte.
  • Kaum zur Sprache kommt in der Zürcher Ausstellung die Nachwirkungen der Nationalsozialistischen Kulturpolitik, die auch zur Geschichte von Kirchners Bildern gehören.

1911 zieht ein Mann aus Dresden nach Berlin. Ernst Ludwig Kirchner wird in der Metropole bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs die fruchtbarsten Jahre als Künstler erleben. Auch wenn in der Grossstadt erst mal keiner auf ihn gewartet hat.

Tänzerinnen, Artisten und Kokotten

Die Ausstellung im Zürcher Kunsthaus zeigt mit vielen exquisiten Leihgaben, wofür sich Kirchner als Künstler bis 1917 interessierte: Er hielt in einem neuen und vibrierenden Malstil das pulsierende Leben in der Metropole fest.

Tänzerinnen im Varieté, Zirkusszenen und die berühmten Kokotten, die auf den Berliner Strassen nach Freiern Ausschau halten, sind Kirchners Lieblingsmotive. Bewegung und Raum interessieren ihn brennend. Und: Wechselnde Perspektiven auf ein Bild zu bannen, das ist sein Ding.

Friedrichstrasse Berlin, 1914.
Legende: Friedrichstrasse Berlin, 1914. Staatsgalerie Stuttgart / Foto: bpk/Staatsgalerie Stuttgart

Brüste und Arme wie Waffen

So stürzen manche Häuserfassaden teilweise fast auf die Strasse. Die Brüste seiner nackten Modelle stehen wie Waffen nach links und nach rechts ab. Und sind so eckig wie Ellbogen und Fussspitzen der angezogenen Damen.

Das Gewusel der Animiermeile Friedrichstrasse bannt Kirchner als chaotisches Kraftfeld, das sich rund um zwei Frauen mit Federn am Hut ausbreitet: Vorbeifahrende Autos und Heerscharen von Männern in dunklen Anzügen richten sich insgeheim nach ihnen aus.

Risiken und Chancen der Grossstadt

Lange wurden diese Berliner Bilder als Kritik am hektischen Moloch Grossstadt gelesen. Dem schliesst sich die Zürcher Ausstellung nicht an.

«Hektik kann auch gut sein», sagt die Kuratorin der Ausstellung, Sandra Gianfreda. Kirchner habe nicht nur die Risiken des Grossstadtlebens erkannt, sondern auch die Chancen.

Selbstporträt in der Atelierwohnung in Berlin-Friedenau, 1913/1915.
Legende: Selbstporträt Kirchners in seiner Atelierwohnung in Berlin-Friedenau, 1913/1915. Kirchner Museum Davos, Schenkung Nachlass Ernst Ludwig Kirchner 2001

Briefe aus der Zeit machen klar, dass Kirchner selbst seine Werke aus den Berliner Jahren als absolut zentral einschätzte. Und auch ausserhalb der Grossstadt wichtige Arbeiten verfolgte.

Drei Badende, 1913.
Legende: Drei Badende, 1913. Art Gallery of New South Wales, Sydney / Foto: AGNSW

Viele Werke in der Zürcher Ausstellung zeigen Landschaften oder Badende auf der Ostseeinsel Fehmarn: ähnlich eckige Kanten, heftige Schraffuren, grelle Farben prägen diese Bilder aus der Idylle. Die expressionistische Schraffur hängt also nicht direkt mit dem Moloch Grossstadt zusammen.

Die düsteren Kapitel ausgeblendet

So fantastisch das Konvolut an Arbeiten ist, das im Kunsthaus Zürich versammelt wurde, die Ausstellung konzentriert sich ausschliesslich auf die Schokoladenseite. Rezeption und Geschichte von Kirchners Bildern spielen keine Rolle.

Kirchners Berliner Werke zählten bereits in den 1920er-Jahren zu den «Must-haves» in der deutschen Kunstszene, viele jüdische Sammler kauften Kirchner und viele deutsche Museen. Im nationalsozialistischen Deutschland dann wurden Kirchner-Bilder als «entartet» bezeichnet, aus Museen entfernt und jüdische Sammlungen geplündert.

Kunst statt Geschichte

Link zur Ausstellung

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Die Ausstellung «Grossstadtrausch – Naturidyll: Kirchner, die Berliner Jahre» ist bis zum 7. Mai 2017 im Kunsthaus Zürich zu sehen.

Nach dem Krieg stopften viele deutsche Häuser ihre Lücken wieder und kauften Kirchner zu, wo das möglich war. Wie damals üblich, spielten Provenienzen dabei keine grosse Rolle. Und so kam es zu einem aufsehenerregenden Restitutionsfall: Die «Berliner Strassenszene» aus dem Berliner Brücke Museum wurde 2006 an die rechtmässigen Erben zurückgegeben.

Exemplarisch lässt sich an Kirchner-Bildern verfolgen, wie die Kulturpolitik der Nazis bis heute nachwirkt. Aber all das interessiert in Zürich nicht. Lieber Kunst- als Zeitgeschichte.

(Regionaljournal Zürich Schaffhausen, 17:30)

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