Lediglich ein Fünftel des Bündner Grossen Rats besteht aus Frauen, in der Regierung sind ab kommendem Jahr aller Voraussicht nach keine Frauen mehr vertreten. «Das Problem ist das traditionelle Rollenbild, das in Graubünden immer noch eine grosse Rolle spielt», sagt dazu FDP-Parteipräsident Bruno Claus.
Auch die übrigen Parteien sehen einen möglichen Grund darin, dass viele Frauen neben der Familie keine Zeit finden, um ein politisches Amt auszuüben. Für Silvia Casutt, Vizepräsidentin der CVP, könnten aber auch die Umgangsformen in der Politik ein Grund dafür sein: «Die Politik gilt als verroht. Das schreckt viele Frauen ab.»
Die Politik gilt als verroht. Das schreckt viele Frauen vor einer Kandidatur ab.
Ab 2018 keine Frauen mehr in der Regierung
Alle Bündner Parteien versuchen, Frauen für ein Mandat zu gewinnen. So etwa die SVP. Parteipräsident Heinz Brand sagt, man gebe sich nicht bei der ersten Absage zufrieden: «Wir versuchen wirklich, die Frauen zu überzeugen.» Dennoch erhalte man oft Absagen.
Wie hoch muss der Frauenanteil sein?
BDP-Vizepräsident Beno Niggli sieht ein weiteres Problem: «Männer, die beispielsweise als Gemeindepräsident gewählt werden, kandidieren dann gerne für den Grossen Rat. Frauen haben eher Hemmungen, noch ein zweites Amt zu besetzen.»
Wir geben uns nicht bei der ersten Absage geschlagen.
Doch wie hoch müsste der Frauenanteil in der Politik sein? Für Philipp Wilhelm von der SP ist klar: «Schön wären 50 Prozent Frauen.» Die SP mache bei den Wahlen einen Schritt in diese Richtung – die Hälfte aller Kandidierenden für den Grossen Rat im nächsten Jahr seien weiblich, so der Parteipräsident.
Die Frauen in der Bündner Politik
Andere Länder, andere Strategien: Ruanda als Beispiel
«Erfreulich ist, dass sich die Parteien Gedanken machen», beurteilt Julia Nentwich, Titularprofessorin für Sozial- und Organisationspsychologie an der Universität St. Gallen, die Situation im Interview mit dem «Regionaljournal Graubünden».
SRF News: Julia Nentwich, wie stehen Sie zu den Überlegungen der Bündner Parteien?
Julia Nentwich: Die Diskussion konzentriert sich noch zu wenig auf die Strukturen und die Kultur in der Politik. Man überlegt sich noch nicht, wie man die Probleme der Kinderbetreuung oder der Sitzungszeiten lösen könnte.
Reicht es, möglichst viele Frauen anzufragen und bei einer Absage zu insistieren?
Ich begrüsse zwar, dass man schon so weit ist, aber es reicht nicht. Man muss wirklich die Bedingungen überarbeiten. Eine Möglichkeit sind auch Mädchenparlamente, in denen Jugendliche mit der Politik in Berührung kommen, wie es das kürzlich abgeschlossene Interreg-Projekt «betrifft:frauen entscheiden» vorschlägt.
Graubünden kennt so ein Mädchenparlament. Sie haben auch die Ergebnisse des Interreg-Projekts angeschaut: Was war dabei für Sie die wichtigste Erkenntnis?
Dort, wo Frauen aktiv sind, beispielsweise in einer Gemeinde, ziehen andere Frauen nach. Es geht hier also auch um Vorbilder.
Könnte eine Quote die Lösung sein?
Ziemlich sicher ja. Sie würde die vorhandenen Probleme sehr schnell erledigen. Erfahrungen mit Quoten zeigen, dass dieses Mittel am schnellsten Erfolg verspricht.
Gibt es Länder, die eine Quote bereits kennen?
In Ruanda kennt man seit 2003 eine Quote für das Parlament. Die Quote betrug damals 30 Prozent Frauen. Heute machen die Frauen bereits über 60 Prozent aus. Auch dies erklärt man sich so, dass die Rollenvorbilder dafür sorgen, dass andere Frauen nachziehen.
In Graubünden wird auch immer wieder gesagt, die Frauen seien selbst Schuld. Sie würden Angebote ablehnen oder seien zu wenig ehrgeizig…
Das ist natürlich einfach gesagt und lenkt von strukturellen Problemen ab. Politik ist nach wie vor eine Männerdomäne, die Vorbilder fehlen also. Von Frauen in Führungspositionen heisst es oft, es sei schwierig, weiblich zu bleiben und dennoch als gute Führungskraft zu gelten. Das kann erklären, weshalb Frauen oftmals höhere Ansprüche an sich selbst haben.
Wie müsste ein politisches Amt aussehen, damit es familienfreundlicher wird? Wären Teilzeit-Regierungsräte eine Option?
So könnte man die Strukturen überdenken. Man müsste sich aber auch die Strukturen in der Wirtschaft anschauen und beispielsweise Teilzeitstrafen abschaffen. So, dass es für Partner von Politikerinnen attraktiver würde, Teilzeit zu arbeiten. Die einfachste Lösung ist immer, den Vater der Kinder einzuspannen und damit der Frau grössere Freiheitsgrade zu verschaffen.
SRF1, Regionaljournal Graubünden, 17:30 Uhr; melm/habs