Die Ostalpenbahn ist ein Traum, der im Kanton Graubünden seit über 150 Jahren geträumt wird. Es ist der Traum einer internationalen Bahnlinie, die von Norden quer durch den Kanton in den Süden führt. Noch bis in die 1990er-Jahre kämpfte ein Komitee dafür, dass eine solche Linie realisiert wird. Zuletzt forderten Kantonsparlamentarier 2017 in einem Vorstoss die Bündner Regierung auf, eine Verbindung von Chur bis Chiavenna durchzurechnen.
Der Historiker Luzi C. Schutz hat die Geschichte der Ostalpenbahn aufgearbeitet. Seine Arbeit wurde im Rahmen der Reihe «Quellen und Forschungen zur Bündner Geschichte» vom Staatsarchiv Graubünden publiziert. Im Gespräch erzählt Luzi C. Schutz von seiner persönlichen Verbindung und warum die Ostalpenbahn zugunsten der Gotthardverbindung scheiterte.
SRF News: Ihr Grossvater, Jakob Schutz, war Bündner Regierungsrat. Sie schreiben im Vorwort, dass er sich für die Ostalpenbahn eingesetzt und Ihnen Geschichten darüber erzählt habe. Welche Anekdote ist Ihnen besonders geblieben?
Luzi C. Schutz: Mein Grossvater hat bis ins hohe Alter von Treffen und Verhandlungen in der ganzen Schweiz und im nahen Ausland erzählt. Ich erinnere mich aber besonders an das Gefühl, welches in seinen Erzählungen erkennbar war. Es war eine Enttäuschung, dass es nicht gelungen ist, die Splügenbahn zu realisieren. Erst später habe ich festgestellt, dass das kein persönliches Problem meines Grossvaters war, sondern dass diese Enttäuschung in einer ganzen Generation Graubündens weit verbreitet war.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass es zwischen dem Lukmanier und dem Gotthard eine Art Wettrennen gab. Warum war der Lukmanier lange Zeit ein Konkurrent für den Gotthard?
Es war die Zeit, als die Eisenbahnnetze im Norden und Süden zu wachsen begonnen haben. Die Herausforderung war es, diese beiden Netze miteinander zu verbinden. Der Kanton Graubünden hat dabei früh eine Chance erkannt, in diesem alpenüberquerenden Verkehr eine zentrale Rolle zu spielen.
Warum hat am Ende der Gotthard mehr überzeugt?
In der Zeit um die Gründung des Bundesstaates ging es darum, ein Projekt zu finden, dass nicht nur dem internationalen Verkehr, sondern auch der Schweiz diente.
Der Gotthard konnte dabei von seiner zentralen Lage profitieren.
Der Gotthard konnte dabei von seiner zentralen Lage profitieren. Zudem machte es der technische Fortschritt möglich, dass am Gotthard eine Bahn gebaut werden konnte – dies galt lange als unmöglich.
Warum wurde in Graubünden noch lange für die Ostalpenbahn gekämpft?
Das hat mit dem Selbstverständnis Graubündens zu tun. Man hat sich damals selbst eine historische Rolle zugeschrieben und sich als Passland zwischen Nord und Süd gesehen. Aus diesem Selbstverständnis heraus wollte man die eigenen Verkehrsverhältnisse mit der Eisenbahn radikal modernisieren. Das hat man sich auf die Fahnen geschrieben und wollte das Projekt während Jahrzehnten umsetzen. Über die Zeit hat sich das ganze auch etwas aufgeschaukelt.
Würde Graubünden heute aus wirtschaftlicher Sicht besser dastehen, wenn die Ostalpenbahn gebaut worden wäre?
Im 19. Jahrhundert hing viel davon ab, wo die internationalen Verkehrsströme durchgeführt wurden. Das prägte auch die wirtschaftliche Entwicklung. Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass die Verbindungen in die Zentren den Kanton Graubünden noch immer beschäftigen. Graubünden hat beispielsweise relativ schlechte Verbindungen zum nächstgelegenen Flughafen oder auch nach Italien oder nach Süddeutschland. Das wäre mit einer Ostalpenbahn anders. Die Frage, ob eine Ostalpenbahn heutzutage zu einem wirtschaftlichen Aufschwung führen würde, kann ich als Historiker nicht beantworten.
Das Gespräch führte Stefanie Hablützel.