Ein St. Galler Gerichtsfall sorgte anfangs Sommer über die Kantonsgrenzen hinaus für Aufsehen. Ein Mann wurde vom Kantonsgericht St. Gallen in zweiter Instanz freigesprochen - wegen Schuldunfähigkeit. Erstinstanzlich war der Mann noch wegen Mordes verurteilt worden. Der Grund für das Fehlurteil vor Kreisgericht: ein komplett falsches forensisches Gutachten.
Stellt sich die Frage: Was braucht es, damit ein Gutachten vor Gericht stand hält? Was überhaupt ist die Aufgabe eines Gutachters? Und welche Verantwortung tragen Richter, Staatsanwälte und Verteidiger?
Gutachten muss verschiedene Fragen klären
Als Erstes zu einem fiktiven Fallbeispiel: Ein Mann demütigt seine Frau, schlägt sie über Jahre. Als sie ihn verlassen will, bedroht er sie, bringt sie um. Der Mann wird verhaftet. Die Staatsanwaltschaft beauftragt einen Gutachter, um herauszufinden, wie gefährlich der Mann ist. Ob er schuldfähig ist und ob er therapierbar ist.
Gutachter gesucht
Die Staatsanwaltschaft wählt dann einen forensisch psychiatrischen Gutachter aus, der über sämtliche Fachausweise verfügt. Dazu kommen weitere Kriterien wie zeitliche Verfügbarkeit, sagt Roman Dobler, Mediensprecher der St. Galler Staatsanwaltschaft.
Ich muss mir bereits bei der Auswahl überlegen, wer ist zeitlich verfügbar und gleichzeitig fachlich qualifiziert.
Sobald sich die Staatsanwaltschaft für einen Gutachter entschieden hat, erhalten der Beschuldigte und sein Anwalt die Möglichkeit, sich dazu zu äussern. Also allenfalls einen anderen Gutachter zu verlangen oder zusätzliche Fragen beantworten zu lassen.
Aufwändige Arbeit
Bis ein Gutachten erstellt ist, dauert es meistens mehrere Monate. Kostenpunkt: mehrere tausend Franken. Um ein Gutachten zu erstellen, redet der Gutachter mit dem Beschuldigten und Personen aus dessen Umfeld, um ein möglichst genaues Bild von der Tat zu erhalten. Er setzt also verschiedene einzelne Puzzleteile zusammen, sagt Gerichtspsychiater Frank Urbaniok. Und weiter: «Das heisst, dass man erklärt, warum es zum Delikt gekommen ist. Das ist deswegen wichtig, weil das die Voraussetzung ist, um eine Risikobeurteilung vorzunehmen.» Nur dann könne der Gutachter etwas zur Therapierfähigkeit des Beschuldigten sagen.
Nur wenn man das Delikt verstanden hat, kann man eine Aussage darüber machen, wie hoch das Risiko ist, dass das wieder geschieht.
In einfacheren Fällen umfasst ein Gutachten 20 bis 30 Seiten, bei komplexeren Fällen können es schon mal 150 Seiten sein. Eines aber sollten alle Gutachten gemeinsam haben: Sie müssen für Richter, Anwälte und Staatsanwälte nachvollziehbar sein.
Über 20 Fehlerquellen
Über 20 typische Fehlerquellen gebe es bei Gutachten, sagt Urbaniok. Eine davon: Ein Gutachter hat eine vorgefasste Meinung, schubladisiert den Einzelfall und wird ihm nicht gerecht.
«Da ist ganz schnell diese sogenannte narzisstische Persönlichkeitsstörung bei der Hand. Da kann jemand ein schnelles Auto fahren oder macht gerne Sport und dann hat er schon halb eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.» Das sei falsch, so Urbaniok, weil dann jemand wegen einer Beobachtung in eine Schublade gesteckt werde. Komme dazu, dass diese Diagnosen gar nichts über Gefährlichkeit erklären.
Über 100 Risikoeigenschaften
Vielmehr müsse man nach Risikoeigenschaften in der Persönlichkeit suchen, so Urbaniok. Dominanz sei beispielsweise eine Risikoeigenschaft, die gerade bei Sexualstraftaten oder bei schweren Gewaltstraftaten häufig eine Rolle spielten, sagt der Gerichtspsychiater. Über 100 Risikoeigenschaften gibt es.
Gutachten können in Frage gestellt werden
Liegt ein Gutachten vor, beantwortet aber nicht alle Fragen oder weist offensichtlich Fehler auf, dann liege es an den Richtern und Anwälten, auf diese Fehler aufmerksam zu machen, so Urbaniok.
Die Frage nach den Möglichkeiten dieser, geht an Patrick Guidon, Präsident der Schweizerischen Richtervereinigung und Richter am Kantonsgericht St. Gallen. Er sagt: «Wenn ein Gericht ein Gutachten als nicht überzeugend ansieht, dann darf es sein Urteil nicht darauf abstellen. Das Gericht muss das Gutachten ergänzen lassen oder ein neues Gutachten in Auftrag geben.»
Wenn ein Gericht ein Gutachten als nicht überzeugend ansieht, dann darf es sein Urteil nicht darauf abstellen.
Guidon ist überzeugt, dass sich seine Richterkolleginnen und -kollegen ihrer Verantwortung diesbezüglich bewusst seien und Gutachten kritisch betrachten.
Verschiedene Beteiligte verantwortlich
Wie überall, gibt es auch im Kanton St. Gallen Einzelfälle, bei denen die Qualitätskontrolle nicht von Anfang an funktioniert hat. So wie beispielsweise bei jenem Fall, der anfangs Sommer für Schlagzeilen sorgte: Erst als das Kantonsgericht auf Antrag des Verteidigers ein neues Gutachten eingeholt hatte, zeigte sich, dass der Mann schuldunfähig ist.
Ein neues Gutachten führte in diesem Fall dazu, dass der Angeklagte heute nicht wegen Mordes im Gefängnis sitzt, sondern freigesprochen wurde. Ein Einzelfall, der zeigt, welche Verantwortung die einzelnen Beteiligten haben - und was passieren könnte, wenn sie ihre Verantwortung nicht wahrnehmen.
SRF 1, Regionaljournal Ostschweiz, 17:30 Uhr; bram