Wie reagieren, wenn das eigene Kind bereits im Primarschulalter ein Smartphone will? Wie sollen Jugendliche wissen, welchen Beruf sie möchten? Mit solchen Fragen kann man sich im Kanton Zürich an das Amt für Jugend und Berufsberatung wenden. Es feiert heuer seinen 100. Geburtstag. Passend zum Jubiläum wurde das Magazin «fürs Leben gut» veröffentlicht.
In der Publikation «fürs Leben gut» schildern beispielsweise Familien ihren Alltag und Jugendliche ihre Visionen. Das Magazin beleuchtet aber auch die düsteren Kapitel aus den Anfängen des Amts. Darüber spricht André Woodtli im «Regionaljournal Zürich Schaffhausen». Er ist seit über 10 Jahren Vorsteher des Amts für Jugend und Berufsberatung.
SRF News: Das Jugendamt setzte in den 1920er- und 1930er-Jahren Massnahmen durch, die bereits für damalige Verhältnisse fragwürdig waren. Was wird da angesprochen?
André Woodtli: Das wirklich grosse schwarze Kapitel sind die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen, früher von den Gemeindebehörden verhängt. Das Jugendamt gab es damals noch nicht. Man hat diese Massnahmen genutzt, um ein Bild von Familien zu installieren. Eine verheiratete, alleinerziehende Mutter hat diesem Bild beispielsweise nicht entsprochen. Systematisch hat man alleinerziehenden Müttern die Kinder weggenommen. Dabei argumentierte man pädagogisch und sagte, es sei kein gutes Umfeld für die Kinder. Doch das Motiv war normativ: Man wollte solche Familien nicht.
Systematisch hat man alleinerziehenden Müttern die Kinder weggenommen.
Zu den düsteren Kapiteln gehörten nebst Fremdplatzierungen auch Verdingkinder oder Medikamentenversuche in Kinderheimen. Was haben Sie durch die Publikation nun darüber erfahren?
Wir leben ja jetzt genau in dieser Zeit, in welcher solche Themen schweizweit, ja gar europaweit in grossem Stil aufgearbeitet werden. Es gibt zurzeit zahlreiche Publikationen und viele wissenschaftliche Untersuchungen dazu. Sie zeigen an Einzelbeispielen auf, wie das funktioniert hat. Ich glaube, es ist wichtig, dass wir uns überlegen, was diese Forschungsarbeiten für uns bedeuten. Wichtig ist, dass wir auch heute selbstkritisch bleiben und diese Resultate der Aufarbeitung auf unsere heutige Arbeit beziehen.
Die Leute, denen wir helfen, sollen ihre Eigenständigkeit so weit wie möglich bewahren.
Wie beeinflusst diese Vergangenheit Sie denn heute?
Bei meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist das sehr präsent – übrigens auch bei den Kindesschutzbehörden. Man tut diesen unrecht, wenn man sie stets als Disziplinierungsinstitutionen bezeichnet. Leute, denen wir helfen, sollen ihre eigenen Vorstellungen vom Leben haben. Sie sollen ihre Eigenständigkeit so weit wie möglich bewahren. Die Verfügungsmacht ist heute viel zurückhaltender als sie vor siebzig oder neunzig Jahren war. Davon bin ich überzeugt.
Besteht die Gefahr, dass so etwas heute wieder passieren könnte?
Für mich gab es bei den bisherigen Untersuchungen eine Kernaussage eines Forschers, der sich sehr viel mit solchen Fragen beschäftigte. Er erzählte mir Folgendes: Wie die Betroffenen damals die Situation erlebten und wie die Behörden oder die Fachleute sie beschrieben, lief völlig auseinander. Man hatte das Gefühl, die reden von einer andere Geschichte. Genau das erlebe ich heute manchmal auch bei Leuten, die unsere Unterstützung in Anspruch nehmen.
Wie Behörden Massnahmen formulieren und wie Betroffene sie erleben, muss möglichst nah beieinander sein.
Wir haben gute, plausible Argumente für Massnahmen. Aber die Betroffenen nehmen die Situation völlig anders wahr, als wir intendieren. Für uns ist das ein Massstab, um heute Familien zu unterstützen: Wie Behörden Massnahmen formulieren und wie Betroffene sie erleben, muss möglichst nah beieinander sein.
Im ganzen Interview spricht André Woodtli auch über die heutige Situation und zukünftige Herausforderungen. Das Gespräch führte Nadine Markwalder.