Am 9. Oktober lag eine grosse Angst in der Luft – nicht nur in Leipzig, sondern in der gesamten DDR. Die Machthaber hatten unverhohlen mit der «chinesischen Karte» gedroht, sprich mit einer blutigen Niederschlagung der friedlichen Montagsdemonstration nach dem Vorbild der kommunistischen Partei Chinas im Sommer 1989 auf dem Tian’anmen Platz in Peking. Gerüchte machten die Runde, dass die Krankenhäuser zusätzliche Betten und Blutkonserven bereitgestellt hätten. Ausländische Journalisten durften offiziell Ost-Berlin nicht verlassen.
Spannungsgeladen aber menschenleer
Die Ostberliner Oppositionellen Siegbert Schefke und Aram Radomski aber fuhren an diesem 9. Oktober nach Leipzig, um genau diese Montagsdemonstration für die westdeutsche TV-Sendung «Kontraste» zu filmen. Auf dem Weg überholten sie eine lange Militärkolonne, aber sie realisierten erst allmählich, dass die Armee und sie selbst dasselbe Ziel hatten: Leipzig.
Es war kein Mensch auf der Strasse – es war menschenleer.
Die Stadt selbst war voller Polizei in Kampfmontur, ansonsten waren die Strassen menschenleer. Als Schefke und Radomski durch die leere, aber spannungsgeladene Stadt streiften, um einen geeigneten Ort für ihre Aufnahmen zu finden, erschallte plötzlich ein Aufruf von Prominenten aus Partei und Kultur über die städtischen Lautsprecheranlagen.
Kurt Masur, der Dirigent des berühmten Gewandhausorchesters verlas den Aufruf und warb für einen friedlichen Dialog. «Das war insofern bemerkenswert, weil überhaupt kein Mensch auf der Strasse war, der das gehört hat. Es war menschenleer», erinnert sich Radomski im Gespräch mit SRF.
«Das wird einen Flächenbrand auslösen»
Schliesslich nisteten sich Schefke und Radomski auf einem Kirchturm ein. Und was sie am frühen Abend sahen, verschlug ihnen die Sprache. Nicht einige hundert, wie in den Monaten zuvor, nicht einige tausend, wie die Woche zuvor, sondern 70'000 Menschen demonstrierten.
«Was wir gesehen haben, war so ungeheurer eindrücklich, sowohl von den Bildern als auch von der Akustik her», erinnert sich Aram Radomski.
Wir wussten sofort: Wenn diese Bilder gesendet werden, wird das einen Flächenbrand in der DDR auslösen.
Radomski fährt fort: «Wir wussten sofort: Wenn diese Bilder gesendet werden, wird das einen Flächenbrand in der DDR auslösen. Man darf nicht vergessen, es gab kein Facebook, keine Handys, es gab kaum Telefone. Das war eine so machtvolle Demonstration, wie man sie in der DDR noch nicht gesehen hatte.» Ja, es hatte nicht einmal einen offiziellen Aufruf gegeben.
Eindrückliche Bilder des Demonstrationszugs am 9. Oktober 1989
Radomski und Schefke gelang es, die Bilder nach Ost-Berlin zu schaffen und die Videokassette in den Westen zu schmuggeln. Wären sie erwischt worden, wären sie für 20 Jahre im berüchtigten Gefängnis in Bautzen gelandet. Weil sie aber nicht erwischt wurden, gingen ihre Fernsehbilder am nächsten Tag um die Welt und – was noch wichtiger war: Sie flimmerten via ARD und ZDF in die Wohnzimmer der gesamten DDR.
«Das war der Tag der Entscheidung, weil der kritische Teil der Gesellschaft gesehen hat: Das System hat kapituliert», lautet kurz und bündig das Fazit des renommierten Historikers Ilko Sascha Kowalzcuk im Gespräch mit SRF. Warum?
Abschied von der ‹Gardine›
Erst einmal war die Kundgebung vom 9. Oktober im Leipzig die bislang grösste Demonstration in der DDR seit dem gescheiterten Aufstand 1953, den die DDR mit Hilfe der Sowjetunion niedergeschlagen hatte.
Immer mehr Menschen verloren ihre Angst und verliessen ihre Beobachtungsposten hinter der ‹Gardine›, weil sie sahen, dass sie gefahrlos auf die Strasse gehen konnten.
Doch diesmal griff die Staatsgewalt nicht ein. Von diesem Tag an änderte sich die Dynamik: «Immer mehr Menschen verloren ihre Angst und verliessen ihre Beobachtungsposten hinter der ‹Gardine›, weil sie sahen, dass sie gefahrlos auf die Strasse gehen konnten.»
Und nicht nur sie sahen das: Alle, die einen Fernseher hatten, verstanden die Signale. Eine Woche später waren doppelt viele Menschen an der nächsten Montagsdemonstration, der Strom riss nicht mehr ab. Kurz darauf trat Staats- und Parteichef Honecker zurück. «Das Regime wankte», so Kowalczuk.
Moskau griff nicht mehr ein
Die DDR-Machthaber kapitulierten, weil sie keine Unterstützung von Moskau erhielten. In Jahrzehnten zuvor hatte die Sowjetunion immer eingegriffen, wenn Reformen oder Unruhen den Kommunismus zu bedrohen schienen. Unter ihrem neuen Hoffnungsträger Gorbatschow wurde diese «Breschnew Doktrin» aufgegeben, zwar nicht innerhalb der Sowjetunion, aber in den Satellitenstaaten des Ostblocks.
Zudem waren seit September die Grenzen über Ungarn nach Österreich offen und zehntausende Menschen verliessen auf diesem Weg die DDR. Den Zurückgebliebenen gab diese Grenzöffnung einen Hebel gegen die Staatspartei SED in die Hand: Entweder ihr tut was oder wir gehen.
«Honecker war fast schlauer als Gorbatschow»
Der Reformkurs von Glasnost und Perestroika von Michael Gorbatschow in der Sowjetunion motivierte auch die staatstreuen DDR-Bürger, Änderungen zu verlangen. Staats- und Parteichef Erich Honecker sei zwar ein Betonkopf gewesen, aber er habe besser als Gorbatschow erkannt, dass es in diesem repressiven, «extrem unfreiheitlichen System» ein bisschen Freiheit nicht geben könne, analysiert Ilko Sascha Kowalczuk: «Es war logisch, dass der Kessel sofort explodieren wird und insofern war Honecker, so absurd sich das anhört, fast schlauer als Gorbatschow.»
«Sie wussten, Moskau wird nicht helfen. Andererseits waren sie auch erschöpft», lautet das Fazit von Kowalcuzk. Nicht einmal Stasi-Chef Erich Mielke konnte es sich noch vorstellen. Panzer gegen das eigene Volk auffahren zu lassen.
Die Berliner Mauer fiel nicht mit einem Schlag am 9. November 1989. Es wurden viele Steine aus der Mauer geschlagen. Ein Meilenstein auf dem Weg dahin war der 9. Oktober 1989 in Leipzig.
Sendebezug: Radio SRF4 News, 10:15 Uhr