«Deutschland wach auf, bevor Deutschland erwacht»: Mit dem triumphalen Einzug der AfD in den deutschen Bundestag schrillen bei den etablierten Parteien und Medien die Alarmglocken. «Deutschland ist in der Position des Alkoholikers. Wenn der wieder trinkt, wird es gefährlich», schreibt Heribert Prantl in der «Süddeutschen Zeitung».
Sein Warnruf steht stellvertretend für die konsternierte, ja geschockte Reaktion weiter Teile von Medien und Politik. AfD-Spitzenkandidat Alexander Gauland trug mit seinem ersten Statement des Wahlabends nicht eben zur Deeskalation bei. Im Gegenteil:
Wir werden dieses Land verändern. (...) Wir werden sie jagen, wir werden Frau Merkel jagen und uns unser Land und unser Volk zurückholen!
Die dröhnende Drohgebärde, garniert mit einer Wortwahl aus der Mottenkiste der deutschen Geschichte, hallte in den Polit-Talkshows im deutschen Fernsehen nach.
Bei «Anne Will» musste sich Gauland heftige Kritik anhören. Dieser verwahrte sich davor, dass wieder einmal die «Nazi-Keule» geschwungen werde, um seine Partei mundtot zu machen. Dann referierte er über die «Masseninvasion» nach Deutschland.
Phantomschmerzen oder berechtigte Sorgen?
Unter den Alarmismus mischen sich aber auch verhaltenere Töne. Der stellvertretende FDP-Vorsitzende Wolfgang Kubicki warnte davor, gleich von der «Machtergreifung der AfD» zu sprechen: «Die Partei ist wie ein Stein im Schuh, aber ein spitzer.» Manche Kommentatoren sehen im Aufstieg der Rechtspopulisten Deutschlands verspäteten Anschluss an eine gesamteuropäische Entwicklung.
Die Angst vor Überfremdung ist ein real existierendes Thema in der Bevölkerung, nicht nur in Deutschland, sondern etwa auch in der Schweiz und Österreich.
Und auch der langjährige Deutschland-Korrespondent von Radio SRF, Casper Selg, sagt zunächst: «Die AfD ist eine Protestbewegung: Es gibt die verschiedensten Leute, die sich unter dem Titel ‹Kampf gegen Überfremdung› sammeln und gegen ‹die da oben› wettern.» Insofern unterscheide sich die Entwicklung nicht von derjenigen in anderen europäischen Ländern; und auch die Wählerschaft lässt sich für Selg nicht pauschal als «rechtsextrem» abtun.
Denn das Unbehagen mancher Menschen mit dem Zustrom von Migranten, der veränderten Lebenswelt, lasse sich nicht wegdiskutieren – auch nicht in Deutschland. Selg berichtete ab 2010 während fünf Jahren aus Berlin. In dieser Zeit hat er sich immer wieder mit einer Frage beschäftigt: «Warum blüht in Deutschland keine Rechtsaussen-Partei auf, die mit den Konsequenzen der Globalisierung Politik macht?»
Das Vakuum am rechten Rand
Eine Antwort lieferte ihm Volker Kauder, Fraktionschef der CDU/CSU-Bundestagsfraktion: «Sie vergessen, guter Mann, dass wir eine Geschichte haben. Und diese Geschichte verbietet es, da etwas entstehen zu lassen», erinnert sich Selg an Kauders Worte. «Ich habe aber immer gedacht, dass zwischen dem rechten Flügel der CSU und der NPD etwas entstehen kann.»
Und was nun entstanden ist, beobachtet Selg durchaus mit Sorge: «In der AfD sind Leute, die man aufgrund ihrer Aussagen als Neonazis bezeichnen muss. Und diese kommen jetzt in den Bundestag.»
Die Parteispitze ist offenbar nicht willens, sich von rechtsextremen Vertretern in den eigenen Reihen zu distanzieren. Der Richtungsstreit innerhalb der AfD, der nun zum offenen Bruch mit der einstigen Führungsfigur Frauke Petry geführt hat, legt davon Zeugnis ab: «Petry will eine deutliche Abgrenzung nach rechts. Gauland lehnt das ab», so der langjährige Deutschland-Korrespondent.
Selg spricht von einer «ausgesprochenen Zäsur» für die deutsche Politik: «Man muss sich das mal bildlich vorstellen: Im Reichstag, in den einst die Nazis rein gewählt wurden, gibt es nun wieder Leute, die zumindest eine Affinität zu den Nationalsozialisten haben. Aus der deutschen Perspektive ist das eine riesige Entwicklung.»