Am 20. Dezember 2024 raste ein 50-jähriger Mann mit einem Mietauto in die Menschen auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt. Er tötete fünf Frauen und einen neunjährigen Buben, über 300 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Heute beginnt der Prozess gegen den Täter mit saudi-arabischer Staatsbürgerschaft. SRF-Korrespondentin Simone Fatzer über die Aufarbeitung des Anschlags – und die Stimmungslage in der Bevölkerung.
Welche Dimensionen hat der Prozess?
Mit 200 Beteiligten ist es einer der grössten Strafprozesse seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Staatsanwaltschaft klagt sechs Morde, 338 versuchte Morde und Körperverletzung in über 300 Fällen an. Aktuell gibt es 177 Nebenkläger. Wegen der vielen Beteiligten und hoher Sicherheitsvorschriften verlangte die Justiz einen provisorischen Neubau für mehrere Millionen Euro. Der grossangelegte Prozess sorgt für viel Kritik in der Bevölkerung und bei den Betroffenen: Der Täter bekomme zu viel Raum. Doch die Nebenkläger müssen den Prozess würdig verfolgen können. Es braucht Rechtssicherheit und Transparenz.
Wie steht es um die politische Aufarbeitung?
Der laufende parlamentarische Untersuchungsausschuss hat gravierende Fehler im Sicherheitskonzept aufgedeckt – die Gefahr war erkannt, aber es gab Versäumnisse, etwa bei der Marktzufahrt. Doch die Verantwortung dafür wird zwischen Marktbetreiberin, Stadt und Land hin und her geschoben. Immer klarer wird, wie auffällig der Täter längst war: 70 Hinweise gab es an seinem Arbeitsplatz im Spital. Er war behördenbekannt, fiel als Islamisten-Gegner aber wieder aus dem Raster. Warum wurde das Gefahrenpotential nicht erkannt? Untersuchungsausschuss und Prozess laufen parallel.
Hat sich die Stimmung gegenüber Menschen mit Migrationsgeschichte verändert?
Nach dem Anschlag haben rassistische Angriffe markant zugenommen. Personen wurden massiv körperlich verletzt, andere bespuckt, angebrüllt, Kinder von Spielplätzen vertrieben. Leute trauten sich nicht mehr auf die Strasse. Migrantinnen überlegen sich, Magdeburg zu verlassen. Andererseits würden sich Einheimische vor ausländisch aussehenden Personen fürchten, wird berichtet. Auch sei der Ton in der politischen Debatte härter geworden. Inzwischen hat sich Situation beruhigt. Doch mit dem Prozess und dem Weihnachtsmarkt könnten die Spannungen wieder zunehmen.
Der Weihnachtsmarkt geht bald wieder los. Wie steht die Bevölkerung dazu?
Nach wie vor meiden viele Leute den Alten Markt grossräumig, also den Platz des Weihnachtsmarkts. Das Thema ist sehr zwiespältig: Für Betroffene geht alles viel zu schnell. Sie waren schockiert, als im März bereits klar war, dass der Weihnachtsmarkt – noch dazu am gleichen Ort – wieder stattfinden soll. Die Befürworter argumentieren, man dürfe sich den Platz nicht wegnehmen lassen, das Leben müsse weitergehen. Es treffen auch kommerzielle Interessen der Budenbetreiber auf die Bedürfnisse der Betroffenen.
Die Behörden versuchen auch, den Menschen wieder ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Die Hütten und Buden werden etwas anders aufgestellt, die Sicherheit bei den Zugängen soll verändert werden, der Aufwand für die Sicherheit insgesamt steigt. Auch soll die Führung der Bereitschaftspolizei künftig bei Einheiten direkt am Ort liegen, das war 2024 anders. Taschenkontrollen oder Videoüberwachung sind nicht geplant. Aus der Politik gibt es noch die Bemühung um eine Art «Safe Space» auf dem Markt, wo man hinkann, sollte man in dem lauten Trubel eine Panikattacke bekommen.