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Schwarz-weiss-Aufnahme: Eine Reihe Menschen geht durch ein Dorf, bewacht von bewaffneten Männern.
Legende: Enteignung und Deportationen der Armenier waren von der türkischen Regierung geplant, so junge türkische Historiker. Keystone Archiv
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International Auch manche Türken sprechen von Genozid

Wenn die Türkei auf den Völkermord an den Armeniern angesprochen wird, gerät die Regierung reflexartig in Rage, die Opposition tobt mit und der Staatspräsident schimpft auf den Papst. Doch es gibt auch andere Stimmen: Junge Historiker, die sich nicht scheuen, das Wort Genozid in den Mund zu nehmen.

Wenn es um das G-Wort geht, wie der Begriff Genozid in der Debatte spöttisch umschrieben wird, dann brennen beim türkischen Staat alle Sicherungen durch. Von aussen betrachtet könnte man meinen, eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Armenier und anderen anatolischen Christen im untergehenden Osmanischen Reich sei in der Türkei noch immer nicht möglich, das Thema auch nach 100 Jahren noch völlig tabu.

Keinerlei Berührungsängste

Doch dieser Eindruck täuscht. Die interessantesten und wichtigsten Beiträge zur Erforschung des Völkermordes an den Armeniern kommen neuerdings von jungen türkischen Historikern. Sie forschen in den osmanischen Archiven und zeigen keinerlei Berührungsängste mit dem G-Wort.

Einer von ihnen ist Mehmet Polatel, der an der privaten Koc-Universität in Istanbul tätig ist. Er untersucht die Enteignung armenischen Besitzes während der Vertreibung 1915/16. Die Eigentumsfrage sei keine Nebensache, sondern konstitutiver Bestandteil des Genozids, erläuterte Polatel kürzlich in einem Vortrag an der amerikanischen Universität in Eriwan: «Die Enteignung begann nicht erst mit dem Genozid. Die Enteignung der Armenier ist vielmehr als ein wesentlicher Faktor der Motivation zum Völkermord zu sehen, der die Täter zum Genozid veranlasste.»

Enteignung und Deportation waren geplant

Detailliert schildert Polatel in seinen Büchern und Artikeln, wie der Besitz der Armenier ab 1915 planmässig enteignet und verteilt wurde. Organisiert und sehr genau kontrolliert wurde das alles von der jungtürkischen Regierung, die den Prozess mit allerlei Gesetzen und Erlassen steuerte – und das schon seit dem Frühjahr 1915, wie Polatel betont. Diese «systematische Kontrolle» des Staates über die Enteignung der Armenier belege, dass es sich bei ihrer Deportation keineswegs um ein vorübergehende Umsiedlung gehandelt habe.

«Einige Historiker versuchen mit allen Mitteln zu beweisen, dass es sich bei den Umsiedlungen um eine vorübergehende Sicherheitsmassnahme handelte und dass der Staat nie die Absicht hatte, den Armeniern Schaden zuzufügen. Aber die Tatsache, dass der Staat sehr detaillierte Planungen und allerlei gesetzliche Massnahmen zur Aufteilung, Zuweisung und Verwendung des armenischen Besitzes erliess, zeigt ganz zweifellos, dass die Armenier in den Tod geschickt wurden. Schon bevor sie tot waren, wurde ihr Besitz verwaltet, als ob sie schon gestorben wären», kommt Polatel zum Schluss.

Türkische Wirtschaft baut auf enteignetem Besitz

Sein ausführlichstes Werk über diesen Aspekt des Völkermordes hat der Historiker zusammen mit seinem Kollegen Ugur Ümit Üngör geschrieben. Er arbeitet am Thema der Türkifizierung von Anatolien zu Lasten der alteingesessenen Minderheiten. Die heute so erfolgreiche türkische Volkswirtschaft sei auf dem enteigneten Besitz der Armenier aufgebaut, sagt Üngör: «Das ist die Grundlage der türkischen Wirtschaft. Die Enteignung der Armenier war eine der grössten Umverteilungen von Eigentum in der neueren Geschichte.»

Anders als der türkische Staat schrecken diese türkischen Wissenschaftler vor schmerzhaften Erkenntnissen nicht zurück. So weist der junge Politikwissenschaftler Ümit Kurt auf die Parallelen zum deutschen Nationalsozialismus hin: «Man kann einen ganz klaren Vergleich ziehen zwischen der Arisierung jüdischen Eigentums durch das Naziregime und der Türkifizierung und Enteignung armenischen Besitzes. Es gibt beträchtliche Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten zwischen den beiden Prozessen.»

Auch der Frage nach der Rolle der modernen Türkischen Republik und ihres Staatsgründers Atatürk geht der junge türkische Wissenschaftler nicht aus dem Weg: «Hinter der Türkifizierung armenischen Besitzes stand ein riesiges Rechtsgefüge, das von der Türkischen Republik und Atatürk übernommen worden ist. Diese ganzen Gesetze und Vorschriften sind von der Republik übernommen und aktualisiert worden.»

Audio
«Die Türkei bewegt sich, wenn auch nur langsam»
aus SRF 4 News aktuell vom 24.04.2015.
abspielen. Laufzeit 4 Minuten 44 Sekunden.

Privat finanzierte Forschung

Kurt ist nur einer von Dutzenden türkischen Historikern, Soziologen, Politikwissenschaftlern und sonstigen Akademikern, die sich schon seit Jahren offensiv und konstruktiv mit dem Schicksal der Armenier in ihrem Land auseinandersetzen. Die meisten von ihnen forschen freilich nicht an staatlichen Universitäten, sondern an privaten Hochschulen.

Doch auch nicht alle Privat-Universitäten haben den Mut dazu. Einer Tagung mit dem Titel «Der Völkermord an den Armeniern», zu der sich Polatel, Üngör, Kurt und viele weitere gleichgesinnte Wissenschaftler am kommenden Sonntag in Istanbul treffen wollen, wurde von der dafür vorgesehenen Bilgi-Universität kurzfristig der Saal gestrichen. Der Tagungsort wurde nun an die Bosporus-Universität verlegt – das ist eine staatliche Universität.

Die Türkei bewegt sich vielleicht langsam, aber sie bewegt sich doch.

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