Es sei gar keine Frage, sagt Pascal Delwit: Was das Land heute erlebe, sei aussergewöhnlich. Delwit ist Professor an der freien Universität Brüssel und einer der renommierten Politologen des Landes. Zurzeit sei die Stimmung äusserst polarisiert, ähnliche Streiks habe das Land letztmals vor 50 Jahren erlebt, zu Beginn der 60er-Jahre. Normalerweise strebten die Parteien und die Sozialpartner in Belgien den Kompromiss an und nicht die offene Konfrontation, sagt er.
Protest gegen drastische Sparpolitik
Delwit nennt zwei Gründe für die aufgeladene Situation: Erstens habe man den Eindruck, dass die Regierung bei der Regierungsbildung die Gewerkschaften nicht konsultiert habe. Das sei untypisch in Belgien, auch für eine Rechtspartei. Zweitens seien die von der Regierung angekündigten Sparmassnahmen tatsächlich drastisch: So soll das Rentenalter auf 67 Jahre erhöht werden. Zudem sollen die Löhne im nächsten Jahr nicht an die Teuerung angepasst werden, wie das in Belgien üblich ist.
Niemand habe Sparmassnahmen in diesem Ausmass erwartet. Das erkläre, warum die Gewerkschaften seit dem ersten Tag der neuen Regierung Mitte Oktober auf die Strassen gehen und gegen die Sparmassnahmen protestieren. Umfragen zufolge ist auch eine Mehrheit des Volkes gegen die Massnahmen der Regierung.
Rechtsregierung beharrt auf Reformen
Trotzdem glaubt der Politologe nicht, dass sich die neue Regierung so einfach von ihrem Kurs abbringen lässt. In den letzten Jahrzehnten wurde Belgien jeweils von Mitte-Regierungen regiert, die einmal etwas mehr links, einmal etwas mehr rechts politisierten. Nun hat das Land eine flämisch dominierte Rechtsregierung, die beweisen wolle, dass sie dem Land ihren Stempel aufdrücken könne.
Spardruck kommt auch von Seiten der EU. Der Schuldenberg Belgiens liegt massiv über den EU-Vorgaben. Bis jetzt hält die Regierung an ihrem Kurs fest. Delwit geht davon aus, dass sie allenfalls versuchen wird mit kleinen Zugeständnissen – beispielsweise mit einer Steuer auf Kapitalgewinne – einen Teil der Gewerkschaften zu besänftigen und die Protestbewegung zu spalten.
Wie lange hält der Druck?
Ob und welche Zugeständnisse die Regierung macht, wird massgeblich davon abhängen, wie lange die Gewerkschaften den Druck aufrechterhalten können. Doch das werde nicht einfach, glaubt Delwit, falls die Gewerkschaften der Regierung selbst mit einem Generalstreik keine Konzessionen abringen können. Neben dem Konflikt zwischen den Landesteilen öffnet sich nun also noch ein neuer Konflikt – zwischen linker Opposition und rechter Regierung.