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Bewältigung der Corona-Krise Es braucht einen neuen Marshall-Plan – egal wie teuer

Nach dem Zweiten Weltkrieg halfen die USA Europa wieder auf die Beine. Ein solches Wiederaufbauvorhaben dürfte nach der Corona-Krise weit teurer ausfallen als seinerzeit der Marshall-Plan.

Wenn es um einen gemeinsamen Kraftakt zum Aufbau ganzer Länder geht, ist der Marshall-Plan nach wie vor die Referenz schlechthin. 1949 sprach US-Präsident Harry Truman vom «grössten Wirtschaftsprogramm der Geschichte».

Für Truman ging es nicht nur um ein gigantisches Wirtschaftsprogramm, sondern ebenso um ein politisches Projekt: Westeuropa sollten durch Wohlstand davon abgehalten werden, den Verlockungen des Kommunismus zu erliegen.

Der Marshall-Plan

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Vier Politiker an einem Schreibtisch
Legende: Keystone

Der Marshall-Plan, offiziell European Recovery Program (ERP), war ein Konjunkturprogramm der USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Es bestand aus Krediten und der Lieferung von Rohstoffen, Lebensmitteln und anderen Waren.

Das 12,4-Milliarden-Dollar-Programm wurde am 3. April 1948 vom US-Kongress verabschiedet und von US-Präsident Harry S. Truman in Kraft gesetzt. Das Programm wurde während vier Jahren aufrechterhalten.

12 Milliarden Dollar – vor 70 Jahren

Benannt war der Plan nach dem US-General und Aussenminister George Marshall, eine Anschubfinanzierung zwölf Milliarden Dollar – eine heute lächerlich gering erscheinende Summe. Inflationsbereinigt wären es heute aber 130 Milliarden.

Doch diese Summe würde heute niemals ausreichen, um den Corona-bedingten Wirtschaftseinbruch zu beseitigen, sagt Ian Lesser, Vizepräsident des German Marshall Fund. Die Denkfabrik ist eine der Institutionen, die aus dem damaligen Wiederaufbauprogramm hervorgingen.

Lesser rechnet mit einem Vielfachen des damaligen Betrags. Zum einen, weil heute ein viel höherer Wohlstand herrscht. Die Bevölkerung wäre nicht zufrieden, wenn man das Wohlstandsniveau heute lediglich auf den Stand der 1950er Jahre brächte.

Zum anderen müsste ein moderner Marshall-Plan viel mehr Länder umfassen, darunter auch jene in Osteuropa, die nach dem Weltkrieg zur sowjetischen Einflusssphäre zählten.

Und eigentlich auch die Entwicklungsländer, also jene, denen die grosse Corona-Krise und der nachfolgende Wirtschaftsabsturz erst bevorstehen.

Wer hat so viel Geld?

Nach dem Zweiten Weltkrieg war klar, wer bezahlt: Dazu imstande waren einzig die USA. Auch heute könnten sie enorme Summen lockermachen, ist Ian Lesser überzeugt, zumal sich die USA als einzige fast nach Belieben in Dollar verschulden können.

Mit entsprechendem politischen Willen liessen sich auch von reichen Staaten in Europa enorme Summen lockermachen. Notwendig wäre es, findet Lesser: «Das Coronavirus kennt keine Grenzen, ebenso wenig dessen wirtschaftliche Konsequenzen. Deshalb gibt es auch keine rein nationalen Lösungen.»

Bloss: «Derzeit grassiert weltweit nicht nur das Coronavirus, sondern ebenso das Virus des Nationalismus.» Das verhindere bisher einen echten Schulterschluss bei der Bekämpfung der Pandemie und ihrer Folgen.

Hilfe mit politischer Ambition

Falls sich aber entscheidende Akteure, nicht zuletzt der US-Präsident, nicht bald eines Besseren besännen, falls nationale Egoismen nicht überwunden würden, werde es gefährlich für die demokratische Welt.

Für den Vizepräsident des German Marshall Fund braucht es daher zwingend einen neuen Marshall-Plan. Und zwar einen für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, verbunden mit einer politischen, ja geopolitischen Ambition. Diesmal gehe es nicht um eine antikommunistische Front, hingegen um die Rettung des «Projekts Europa», wie es Ian Lesser ausdrückt.

Es stehe in der aktuellen Krise enorm viel auf dem Spiel. «Nicht weniger als das Überleben der aktuellen demokratisch gewählten Regierungen, gar das Überleben der heutigen demokratisch-rechtsstaatlichen Ordnung.»

Um diese historische Errungenschaft zu retten vor Tyrannen, Autokraten oder Populisten, wäre ein neuer Marshall-Plan ein bescheidener Preis – und käme er noch so teuer zu stehen.

«Echo der Zeit» 20.04.2020, 18:00 Uhr

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