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Brexit-Handelsabkommen Der Brexit ist Tatsache – Niemand verliert sein Gesicht

1645 Tage nachdem die Britinnen und Briten für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt haben und 7 Tage vor Ablauf der Übergangsfrist, einigen sich die Unterhändler aus London und Brüssel auf ein Freihandelsabkommen. Der wirtschaftlich schlimmste Ausgang dieses Scheidungsdramas konnte damit verhindert werden.

Grossbritannien wird am 1. Januar für die EU nicht zu einem Drittland wie Somalia oder Afghanistan. Güter können weiterhin ohne Tarife und Quoten aus dem Vereinigten Königreich in die EU exportiert werden und umgekehrt – das befürchtete Chaos, so scheint es, ist abgewendet. Viele britische Unternehmer sprechen von einem Weihnachtsgeschenk. Insbesondere die britische Landwirtschaft oder die Autoindustrie atmen auf.

Mehr Kontrollen, mehr Staus

Trotzdem wird der Alltag am 1. Januar nicht mehr derselbe sein. Der freie Personenverkehr wird nicht nur für Einwanderer beendet, sondern ebenso für Britinnen und Briten. Wenn sie künftig nach Frankreich, Belgien oder Deutschland in die Ferien fahren, benötigen sie einen internationalen Führerausweis, eine grüne Versicherungskarte und der Hund muss vier Monate vor der Abreise von einem Veterinär untersucht werden.

Selbst mit diesem Freihandelsabkommen wird es an den Grenzen zu mehr Kontrollen, Administration und damit Staus führen. Diese Reibungsverluste werden für die Menschen in Dover oder Felixtowe vor dem Fenster ersichtlich sein und für die britische Wirtschaft spürbar sein. Einen Vorgeschmack haben die Britinnen und Briten, pandemiebedingt, in den vergangenen Tagen gekriegt.

Grosse Erleichterung in London

Trotzdem ist das Freihandelsabkommen für die britische Regierung in diesen schwierigen Zeiten eine grosse Erleichterung. Premierminister Boris Johnson wird das wohl nie zugeben. Im Gegenteil, in London gab man sich in den letzten Wochen und Tagen ziemlich selbstbewusst.

Boris Johnson wurde nicht müde zu behaupten, dass ein «No Deal» ebenso gut wie ein «Deal» sei. Die Bank von England schätzte die wirtschaftlichen Langzeitschäden eines «No Deal» jedoch ziemlich anders ein: Die Reibungsverluste eines «No Deal»-Szenarios wären für die Wirtschaft signifikant grösser gewesen, als die absehbaren Folgeschäden der Pandemie.

Die Europäische Union (EU) ist und bleibt für Grossbritannien die wichtigste und nächste Handelspartnerin. Dank dem vorliegenden Freihandelsabkommen können auch die politischen Kollateralschäden reduziert werden. Niemand hat die Verhandlungen im Zorn verlassen. Schuldzuweisungen werden weitgehend unterbleiben. Niemand verliert das Gesicht.

Johnson hat sein Versprechen erfüllt

Grossbritannien ist zwar definitiv nicht mehr Mitglied der Union, aber weiterhin assoziiert und befreundet. Man steht ausserhalb des Zauns, ist aber immer noch Teil der Landschaft. Offene Fragen – und von denen wird es noch viele geben – können weiterhin einvernehmlich geregelt werden.

Gut ein Jahr nach seiner triumphalen Wahl hat Boris Johnson sein Versprechen «get Brexit done» erfüllt. Grossbritannien hat die Kontrolle über Grenzen, Geld und Gesetze zurückgewonnen. Allzu lange freuen kann sich Boris Johnson jedoch nicht. Denn Grossbritannien wurde nicht nur von der Pandemie erschüttert, sondern ist ebenso vom Brexit gespalten. Die ideologischen Gräben verlaufen bis heute quer durch die Gesellschaft und ziehen sich bis in Freundschaften und Familien. Nach 1645 Tagen toxischer Debatte benötigt das Land deshalb nicht nur einen Freihandelsvertrag, sondern ebenso eine Versöhnung.

Patrik Wülser

Grossbritannien-Korrespondent

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Patrik Wülser arbeitet seit Ende 2019 in London als Grossbritannien-Korrespondent für SRF. Wülser war von 2011 bis 2017 Afrika-Korrespondent und lebte mit seiner Familie in Nairobi. Danach war er Leiter der Auslandsredaktion von Radio SRF in Bern.

SRF 4 News, 24.12.2020; 16:00 Uhr

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