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EU-Migration Wie kann Europa Flüchtlinge fair verteilen?

Welches europäische Land soll wie viele Flüchtlinge aufnehmen? An dieser Frage beisst sich die EU seit Jahren die Zähne aus. Sollen bevölkerungsreiche Länder mehr Flüchtlinge als bevölkerungsarme aufnehmen? Wie soll die Fläche oder der Wohlstand eines Landes (BIP) berücksichtigt werden? Soll ein Empfängerland entlastet werden, wenn es bereits unter einer hohen Arbeitslosenquote leidet?

Wir lassen Sie entscheiden, wie eine faire Verteilung aussehen soll: Sie gewichten die Kriterien für die Verteilung – wir zeigen Ihnen auf der Europakarte, welche Länder 2022 gemäss Ihrem Schlüssel «zu viele» oder «zu wenige» Asylbewerberinnen und Asylbewerber zählten.

Wie wichtig sind Ihnen diese Faktoren für eine gerechte Verteilung der Asylbewerber in Europa?

Wählen Sie die gewünschte Gewichtung mit dem Schieberegler.

Datenquelle und Berechnungen

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Die Daten und die Berechnungsmethode stammen von Forschenden der Universität Neuenburg.

Als Flüchtling gilt hier, wer 2022 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat oder als Familienangehöriger in einen solchen Antrag einbezogen ist. Vertriebene aus der Ukraine sind dadurch grösstenteils nicht abgebildet, da sie in der EU und in der Schweiz auch ohne Asylantrag einen Schutzstatus haben.

Basierend auf Ihrer Einschätzung von «unwichtig» bis «sehr wichtig» der verschiedenen Faktoren berechnen wir die Gewichtung für die Verteilung aller Flüchtlinge in den abgebildeten Ländern im Jahr 2022.

Das sagt der Migrationsexperte

Etienne Piguet, Vizepräsident der Eidgenössischen Migrationskommission, erklärt im Interview mit SRF News, was es für eine faire Verteilung der Asylsuchenden in Europa braucht.

Porträt von Etienne Piguet
Legende: «Zunächst muss geklärt werden, ob der Verteilungsschlüssel für Asylsuchende im Aufnahmeverfahren oder für Personen gilt, die bereits Schutz erhalten haben», sagt Etienne Piguet, der als Professor an der Universität Neuenburg zu Grenzen und Migrationsströmen forscht. zVg

SRF News: Europa fehlt noch immer ein Verteilschlüssel für Flüchtlinge und manche zweifeln daran, dass es der EU je gelingt, sich politisch zu einigen. Wie müsste ein Verteilschlüssel aus Ihrer Sicht gestaltet sein, um eine gerechte Verteilung zu ermöglichen?

Etienne Piguet: Zunächst muss geklärt werden, ob der Verteilungsschlüssel für Asylsuchende im Aufnahmeverfahren oder für Personen gilt, die bereits Schutz erhalten haben. Die Verteilung von Asylbewerbern vor dem Verfahren ist kompliziert und betrifft viele Personen. Es wäre effizienter, die Prüfung der Asylanträge an spezifischen Orten in Europa durchzuführen, bevor die Personen verteilt werden.

Länder, die mehr Flüchtlinge aufnehmen, sollten einen erheblichen finanziellen Beitrag von anderen Ländern erhalten.
Autor: Etienne Piguet Professor für Geografie der Mobilität an der Uni Neuenburg

Zweitens ist es wichtig, dass die Länder davon überzeugt sind, dass es eine echte Gerechtigkeit gibt: Die Verteilung sollte proportional zu von allen akzeptierten Kriterien wie Einwohnerzahl, Wohlstand etc. erfolgen. Ergänzend dazu – da es schwierig sein wird, grosse Menschenmengen zu bewegen – müssen Länder, die mehr Flüchtlinge aufnehmen, automatisch einen erheblichen finanziellen Beitrag von anderen Ländern erhalten. So ist das auch im aktuellen Entwurf des europäischen Migrationspakts vorgesehen.

Was sind die Vorteile eines verbindlichen Verteilschlüssels, sowohl für die beteiligten Staaten als auch für die Flüchtenden?

Eine gerechte Verteilung ist die Grundlage für ein solidarisches System. Sie verhindert unkontrollierte Migrationsbewegungen in Europa und die daraus resultierenden Konflikte, wie etwa kürzlich zwischen Frankreich und Italien. Der Vorteil für Asylsuchende ist, dass eine koordinierte Politik die Ungleichbehandlung zwischen den Aufnahmeländern und eine «Asyllotterie» verringert. Derzeit variieren die Schutzquoten von Land zu Land bei gleicher Herkunftsnationalität und gleichem Profil erheblich.

So funktioniert die Verteilung der Flüchtlinge heute

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Gemäss dem Dublin-Abkommen, an dem auch die Schweiz beteiligt ist, ist jenes Land zuständig, in das eine asylsuchende Person als Erstes einreist. Vor allem Länder an der Schengen-Dublin-Aussengrenze wie Griechenland oder Italien sind damit unzufrieden, trifft sie damit doch die potenziell grösste Last – die Binnenländer dagegen kritisieren, diese Länder nähmen ihre Verantwortung nicht wahr.

13 Länder haben im Sommer 2022 zugesagt, Mittelmeerstaaten wie Zypern oder Italien mit der freiwilligen Aufnahme von Asylsuchenden zu entlasten.

Weshalb hat es die EU bisher trotz Bemühungen nicht geschafft, sich auf einen verbindlichen Verteilschlüssel zu einigen?

Jedes Land hofft, dass die Asylsuchenden in ein anderes Land gehen würden. Man zieht es vor, die Aufnahmebedingungen der umliegenden Länder zu unterbieten, in der Hoffnung, dass die Menschen woanders hingehen. Länder sind der Idee eines Schlüssels sehr wohlgesinnt, solange sie selbst viele Anträge erhalten. Aber sobald andere Länder an vorderster Front stehen, lehnen sie ihn plötzlich ab.

Was sind die Folgen des fehlenden Verteilschlüssels für die EU und EFTA-Staaten? Was bedeutet das für die Flüchtenden?

Das Fehlen einer gemeinsamen Politik und einer Verteilung der Aufnahmekapazität hat zur Folge, dass einige Länder überlastet sind und Asylsuchende unter schlechten Bedingungen untergebracht werden müssen – siehe Griechenland. Der Mangel an europäischer Koordination führt auch dazu, dass Schutzsuchende glauben, es lohne sich, quer durch Europa zu reisen, um sich ein Aufnahmeland auszusuchen. Man sieht auch das politische Risiko, das unkontrollierte Ankünfte ohne europäische Solidarität für ein Land darstellen: Italien ist ein gutes Beispiel.

Man könnte argumentieren, die Umsetzung eines Verteilschlüssels würde zu einem grossen bürokratischen Aufwand führen und die Flexibilität der beteiligten Länder einschränken. Teilen Sie diese Kritik?

Eine Verteilung der Menschen direkt bei ihrer Ankunft durchsetzen zu wollen, ist tatsächlich schwer vorstellbar. Nach einer ersten Bewertung ihres Asylantrags kann es die Erstaufnahmeländer jedoch wirksam entlasten, wenn die Flüchtlinge an einem anderen Ort neu angesiedelt werden. Dieses Prinzip der Neuansiedlung wird vom UNHCR seit langem weltweit praktiziert.

Die Schweiz kennt «im Kleinen» bereits einen Verteilschlüssel: für die Verteilung der Flüchtlinge auf die Kantone. Könnte man dieses System nicht auf eine europäische Lösung übertragen?

Das Schweizer System funktioniert nach dem oben für Europa skizzierten Modell: Eine erste Phase des zentralisierten Verfahrens in den Bundeszentren und dann eine Verteilung der Personen, die Schutz erhalten haben – vorläufige Aufnahme, Flüchtlingsstatus oder «langes» Verfahren –, auf die Kantone. Diese Verteilung erfolgt streng proportional zur Bevölkerung, ausser in den Kantonen, die ein Bundeszentrum akzeptiert haben. Im Allgemeinen funktioniert dieses System gut: Flüchtlinge haben kein Interesse daran, unbedingt in einen bestimmten Kanton gehen zu wollen, und die Kantone haben kein Interesse daran, eine feindselige Politik zu betreiben, um diese Personen zum Verlassen des Kantons zu bewegen: So wird vermieden, was derzeit in Europa zu beobachten ist.

Es ist natürlich schwierig, das Schweizer System direkt auf die EU zu übertragen, da der Schweizer Föderalismus die Konsensbildung erleichtert. Ich denke daher, dass es noch einige Zeit dauern wird, bis ein solches System in der EU eingeführt wird – aber ich würde es mir wünschen.

Impressum

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Legende: SRF

Jonas Glatthard, Roland Specker (Redaktion), Robert Salzer (Frontend-Entwicklung), Ulrich Krüger (Design)

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10vor10, 23.05.2023, 21:50 Uhr;

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