In Europa liessen sich momentan allerhöchstens zwei Millionen Soldaten mobilisieren. Das ist ein Bruchteil dessen, was während des Kalten Krieges möglich war.
Würde indes Russland ein Nato-Land angreifen, gehe es nicht nur um bessere Waffen und überlegene Technologie, sagte vor Verteidigungsexperten der deutsche General Jürgen-Joachim von Sandrart: «In Wahrheit kommt es auch auf die schiere Masse an.»
Studie: Mindestens 300'000 zusätzliche Soldaten
Laut einer Studie der Brüsseler Denkfabrik Bruegel und des Kieler Instituts für Weltwirtschaft bräuchten die europäischen Nato-Länder mindestens 300'000 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten, um Russland ohne die USA die Stirn bieten zu können.
In einem Fernsehinterview räumte der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz ein: «Wir haben in einer längeren Perspektive mindestens 60'000 Soldaten und mehr als 200'000 Reservisten zu wenig.»
Selbst wenn die Wehrpflicht wieder eingeführt würde, liessen sich die Unterbestände der Bundeswehr auf die Schnelle nicht auffüllen: «Die Infrastruktur, die Ausbildner, die Kasernen – all das ist nicht mehr da. Es geht also um einen Prozess, der viele Jahre dauern wird.»
Nachdem nun jahrelang fast nur über höhere Verteidigungsetats und mehr Waffen diskutiert wurde, «wird das Personalproblem nun immerhin diskutiert», sagt Ian Lesser, Chef des Brüsseler Sitzes der US-Denkfabrik German Marshall Fund.
Das eigentliche Problem liegt bei der Akzeptanz, bei der mangelnden Wehr- und Kampfbereitschaft. Die strategische Kultur in Europa ist mittlerweile eine pazifistische.
Lesser findet, vielerorts sei die Einführung oder Wiedereinführung der Wehrpflicht «fast unausweichlich».
Wenig Rückhalt in der Bevölkerung
Doch der Widerstand ist gross. Ein Gegenargument: Wehrpflichtsoldaten sind den technischen Anforderungen der modernen Kriegsführung nicht gewachsen. Das könnten nur Berufsstreitkräfte. Allerdings liesse sich dieses Manko wohl mit guter Grund- und konsequenter Weiterbildung beheben.
«Das eigentliche Problem liegt jedoch bei der Akzeptanz, bei der mangelnden Wehr- und Kampfbereitschaft. Die strategische Kultur in Europa ist mittlerweile eine pazifistische», sagt Lesser.
Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup ergab: Europaweit wären nur 32 Prozent der Befragten willens, für die Verteidigung ihrer Heimat zu kämpfen; 47 Prozent lehnen das ab. Und das trotz des Schocks des russischen Überfalls auf die Ukraine.
Vor allem Jüngere gegen Wehrpflicht
In zahlreichen Staaten, darunter Deutschland, Frankreich, Polen oder Belgien hat die politische Führung die Wehrpflichtdebatte immerhin lanciert. In anderen, etwa in Spanien, Slowenien oder der Slowakei, lehnen die Regierungen sie weiterhin strikt ab.
Dazu kommt: Zwar äussern sich Ältere tendenziell positiv zur Wehrpflicht; Jüngere indes, also jene, die Dienst leisten müssten, finden das überwiegend eine schlechte Idee. Was auch damit zu tun hat, dass Militärdienst kein Steigbügel mehr ist für eine zivile Karriere.
Opferbereitschaft bei Russen höher
Die Bereitschaft, mehr Geld in die Verteidigung zu stecken, hat aufgrund der russischen Bedrohung und der amerikanischen Abwendung von Europa zwar zugenommen. Doch wenn es darum geht, tatsächlich kämpfen zu müssen, stellt Ian Lesser eine offenkundige Asymmetrie fest zwischen der Geisteshaltung und der Opferbereitschaft in Russland und jener in Europa.
Diese Asymmetrie würde Russland, falls es zum Krieg kommt, klar bevorteilen.