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International Ghettos als Nährböden von Extremismus

Die Sicherheit, nach der sich alle sehnen, packt das Problem von religiösen Fanatikern nicht bei der Wurzel. Wie sich diese Leute, oft mit Migrationshintergrund, überhaupt dermassen radikalisieren können, ist auch eine Frage der Integration. Beispiele aus Frankreich, Deutschland und Grossbritannien.

Pakistaner in Grossbritannien, Türken in Deutschland und Nordafrikaner in Frankreich: Westeuropa hat prägende muslimische Gemeinschaften. Welche unterschiedlichen Erfahrungen mit der Integration machen diese Staaten?

Martin Alioth, Charles Liebherr und Casper Selg, die SRF-Korrespondenten in London, Paris und Berlin, haben sich darüber Gedanken gemacht.

SRF: Die Brüderlichkeit, die Fratérnité, die momentan so hochgehalten wird, wird nicht sehr vorbildlich gelebt. Wie steht es wirklich um die Integration der Muslime in Frankreich?

Charles Liebherr: Um die überwiegende Mehrheit der Muslime steht es nicht so schlecht, wie die Frage suggeriert. Sie sind gut integriert, arbeiten, nehmen am politischen Leben teil. Natürlich fällt diese Antwort nach den Terrorangriffen von vergangener Woche nicht ganz leicht. Dennoch entspricht das der Realität. Das heisst aber nicht, dass es nicht eine grosse Zahl an jungen Menschen gibt, die vom Staat im Stich gelassen wurden und werden. Sie sind Verlierer des Systems, Arbeitslose, die in Ghettos hausen. Und sie sind nicht selten Muslime. Das ist aus meiner Sicht aber nicht die Folge einer falschen Integrationspolitik in Bezug auf eine bestimmte Religionsgemeinschaft. Sondern das ist die Konsequenz einer jahrzehntelangen Wohnbau-, Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik in diesen Ghettos.

Audio
Die Krux mit der Integration
aus Echo der Zeit vom 12.01.2015. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 11 Minuten 50 Sekunden.

Haben denn die Massnahmen nach den massiven Unruhen in der Banlieue vor ein paar Jahren nichts verändert?

Diese Ghettos sind eine triste Realität. Mit Farbtopf und Pinsel frischt man die Fassade dieser Vorstädte bestimmt auf. Verschiedene Organisationen leisten auch vorzügliche Arbeit. Im Kern ist aber keine Besserung in Sicht. Und der Kern ist die Perspektivlosigkeit einer ganzen Generation von jungen Menschen, die keine Aussicht auf einen Job, auf sozialen Aufstieg hat. Das ist ein Nährboden für allerlei Heilversprecher, Demagogen, Manipulatoren oder schlicht Kriminelle.

Grossbritannien ist eines der grossen Einwanderungsländer – eine Multikulti-Gesellschaft par excellence. Aber mischen sich die Kulturen auch tatsächlich?

Martin Alioth: Weniger als man annehmen dürfte. Man muss geografisch unterscheiden: In der Metropole London sind die Muslime nur eine Minderheit unter vielen. In den ehemaligen Textilstädten Nordenglands, dem ursprünglichen Bestimmungsort pakistanischer Einwanderer, sieht es völlig anders aus. Das sind zweigeteilte Gesellschaften: muslimische Minderheit oder christliche Mehrheit. Das spiegelt sich auch in den Siedlungsmustern wider. Die ehemalige Kolonialmacht hat bis vor kurzem die Andersartigkeit nicht nur geduldet, sondern sogar gefördert. Die Diskussionen um eine für alle verbindliche Leitkultur sind hingegen versandet.

London hatte die Erfahrung von Terroranschlägen auch gemacht: Am 7. Juli 2005 mit vier Selbstmordattentaten im öffentlichen Verkehr. Mit welchen Integrationsbemühungen hat man diese Angriffe beantwortet?

Wie jetzt in Frankreich sass auch damals der Schock darüber, dass die Täter gebürtige Briten waren, besonders tief. Das hat schliesslich zur Abwendung von «laisser faire», vom Multikulti-Modell geführt. Aber der damalige Premier hat eine grosses Problem: Er hatte keine Gesprächspartner auf der muslimischen Seite. Die Dachverbände erwiesen sich nicht selten selbst als zu radikalisiert. Es gibt Programme gegen die Radikalisierung. Die staatlichen Gelder enden aber nicht immer dort, wo sie sollten. So werden beispielsweise Hassprediger von angeblich gemässigten und geförderten Gruppen zu Vorträgen eingeladen.

Deutschland hatte, so sagen die Behörden, bisher Glück. Ein Terroranschlag sei nur eine Frage der Zeit. Aber eine Ghettoisierung von Muslimen gibt es in diesem Ausmass nicht. Was macht Berlin bei der Integration also richtig?

Casper Selg: Die Spannungen hier sind bestimmt etwas geringer als etwa in Frankreich mit seinen Banlieues und in Grossbritannien. Das heisst aber nicht, dass hier alles reibungslos verläuft. Ein Unterschied ist sicher der Grad der Beschäftigung in Deutschland. Der junge Migrantensohn hat hier grössere Chancen, einen Job, eine Rolle zu finden in der Gesellschaft, als in anderen Ländern. Ein zweiter Punkt ist die Politik gegenüber den Migranten und das Motto «der Islam ist Teil Deutschlands», das Bundespräsident Wulff geprägt hatte. Viele sind damit nicht einverstanden. Obwohl seitens der Regierung immer wieder betont wird, dass von den Zuwanderern dafür auch etwas erwartet wird. Nämlich dass sie die hiesige Rechtsordnung akzeptieren und die deutsche Sprache erlernen.

Dieser Spracherwerb beginnt in Deutschland bereits früh. Wie sonst sorgt der Staat für eine bessere Integration muslimischer Kinder?

Man geht davon aus, dass Integration am besten gelingt, wenn die Kulturen einander von Kindsbeinen an kennenlernen. Das bedingt, dass Kinder schon von ganz klein an zusammen sind – etwa in den Kitas. Das ist nicht immer einfach. Zum einen gibt es viele türkische Mütter, welche zögern, ihre Kinder schon früh in eine Kita zu geben. Zum anderen gibt es Gebiete mit einem so hohen Ausländeranteil, dass die Zuwandererkinder in der Kita oder später in der Schule mehrheitlich unter sich sind.

Die Gespräche führte Simone Fatzer.

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