«Notwehr ist kein Verbrechen» steht mit dickem Filzstift auf dem Schild geschrieben, das die junge Frau in einem Park in Moskau Anfang Juli in die Höhe hält. Sie zeigte damit ihre Solidarität mit drei jungen Schwestern, denen langjährige Haftstrafen drohen, weil sie vergangenen Sommer ihren Vater ermordet haben sollen.
Zum Zeitpunkt der Tat waren Maria, Angelina und Christina zwischen 17 und 19 Jahre alt. Bei einem Schuldspruch drohen den beiden älteren bis zu 20 Jahre Haft, der jüngeren Maria bis zu 10 Jahre.
Schlange stehen für Protest
Nach Bekanntwerden der drakonischen Haftstrafen gegen die drei Schwestern formierte sich im russischsprachigen Teil des Internets Widerstand unter dem Slogan, der den Namen der Mädchen trägt: «Wir sind die Schwestern Chatschaturjan.»
Weil die russische Gesetzgebung die Versammlungsfreiheit in den vergangenen Jahren laufend eingeschränkt hat, vereinbarten Gleichgesinnte in den vergangenen Monaten regelmässig über soziale Medien einen Treffpunkt auf einem öffentlichen Platz, standen Schlange, um nacheinander ihre Plakate in die Höhe zu heben. Eine der gängigen Methoden unter Demonstrierenden in Russland, um mögliche Strafen wegen Teilnahme an einer nicht angekündigten Demonstration zu umgehen.
Der Angreifer wird zum Opfer
Aus Sicht der Unterstützerinnen haben die Mädchen aus Notwehr gehandelt, denn der Vater soll seine Töchter während Jahren geschlagen und misshandelt haben. Davon sind auch die Anwälte der Schwestern überzeugt.
Die Polizei in Russland interessiert sich nicht dafür, weswegen sich jemand gegen einen Angreifer verteidigt.
Doch in Russland sei es leider häufig so, dass die Umstände einer Tat nicht berücksichtigt würden, erzählt der Anwalt von Angelina: «Die Polizei in Russland interessiert sich nicht dafür, weswegen sich jemand gegen einen Angreifer verteidigt. In Fällen von häuslicher Gewalt, in denen sich meistens eine Frau einem männlichen Angreifer zur Wehr setzt und ihn dabei verletzt, wird aus dem Angreifer ein Opfer gemacht, sofern er überlebt.»
Laut den Schilderungen der Mädchen gegenüber der Polizei hat der Vater sie auch am Tag seines Todes geschlagen und gequält. Aus Angst, der Vater würde ihre ältere Schwester Christina töten, griffen die beiden jüngeren Schwestern zu Hammer und Messer. Im Handgemenge versetzte Angelina dem Vater tödliche Stiche. Psychologische Gutachten attestieren den Mädchen, dass sie keinen anderen Ausweg gesehen hätten, als ihren Vater zu töten.
Keine Hilfe von der Polizei
Die Mutter der Mädchen wurde vom Vater drei Jahre zuvor auf die Strasse gesetzt. Mit der Pistole in der Hand habe ihr Mann gedroht, dass er die Töchter erschiessen werde, sollte sie nicht die gemeinsame Wohnung verlassen. Eine Anzeige bei der Polizei reichte die Frau aus Angst nicht ein.
Mehrere Jahre zuvor habe die Polizei ihr nicht geholfen, als sie versucht habe, ihren Mann anzuzeigen, erzählte die Mutter der Schwestern russischen Medien. Die Beamten hätten stattdessen ihren Mann angerufen, der sie auf dem Posten abgeholt und anschliessend zu Hause geschlagen habe.
Auf Anfrage von SRF will die Moskauer Polizei weder von dieser Anzeige noch von mehreren Anzeigen der Nachbarn Kenntnis haben. Iwan, der nur wenige Stockwerke über dem ehemaligen Zuhause der Familie wohnt, beschreibt den Vater als aggressiv und unberechenbar: «Einmal ging ich mit dem Hund spazieren – als er mich grundlos bedrohte. Er kam auf mich zu, öffnete seine Jacke, zeigte mir seine Pistole und drohte damit, meinen Hund zu erschiessen.»
Alle 40 Minuten ein Todesopfer
Die Gefahr für russische Frauen, durch ein Familienmitglied getötet zu werden, lässt sich statistisch nachweisen. Laut dem russischen Innenministerium kam es 2012 zu 14’000 weiblichen Todesopfern durch häusliche Gewalt, in den meisten Fällen handelte es sich beim Täter um den Ehemann oder Partner.
Wie sich die Lage seit 2012 entwickelt hat, lässt sich nur abschätzen, da die russischen Behörden die Fälle von häuslicher Gewalt nicht gezielt erfassen. Laut Human Rights Watch hat sich das Problem jedoch verschlimmert. Denn das russische Parlament entschied 2017 mit überwältigender Mehrheit, häusliche Gewalt zu entkriminalisieren. Seither wird das erstmalige Verprügeln innerhalb der Familie mit einer Ordnungsbusse bestraft.
Gegen diesen fehlenden Schutz vor häuslicher Gewalt hat eine Gruppe von Aktivistinnen und Bloggerinnen Mitte Juni auf Instagram eine Kampagne gestartet unter dem Hashtag: «Ich wollte nicht sterben.»
Laut der Mitinitiatorin und Juristin Alena Popova haben 80 Prozent aller Gefängnisinsassinnen, die wegen eines Tötungsdeliktes verurteilt wurden, versucht, sich gegen einen Angreifer zu wehren. Mit ihrer Onlinepetition für ein Gesetz zur Prävention vor häuslicher Gewalt konnten die Aktivistinnen bereits mehr als eine halbe Million Unterschriften sammeln.
Russische Frauen leben in Angst
Erste Anzeichen, dass sich die Gesetzgebung in Russland in absehbarer Zeit doch noch ändern könnte, sind nicht in erster Linie dem Druck innerhalb der russischen Gesellschaft zu verdanken, sondern dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Die russischen Behörden haben über viele Jahre ein Klima toleriert, welches häusliche Gewalt fördert.
Anfang Juli verurteilte das Gericht in Strassburg Russland zu einer Busse von umgerechnet rund 22’000 Franken. Es war das erste Urteil des Gerichtshofes gegen Russland wegen häuslicher Gewalt. Eine Frau aus einer Stadt an der Wolga, die während Jahren von ihrem Ex-Partner verfolgt, geschlagen und entführt wurde, hat erfolgreich Russland wegen erniedrigender Behandlung und Diskriminierung verklagt.
Die Richter fanden in ihrem Urteil deutliche Worte gegen Russland: «Die russischen Behörden haben über viele Jahre ein Klima toleriert, welches häusliche Gewalt fördert. Damit haben sie versagt, Bedingungen für eine tatsächliche Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu schaffen, welche es Frauen erlauben würde, frei von Angst, schlechter Behandlung oder Attacken gegen ihre körperliche Integrität zu leben.»
Das Urteil müsse noch genauer betrachtet werden, doch möglicherweise werde ein Gesetz zur Prävention von häuslicher Gewalt geschaffen, erklärte diese Woche ein Mitglied des russischen Oberhauses, Andrei Klischas.
Im Fall der Schwestern kommt das Umdenken zu spät. Anwalt Alexei Parschin ist sich sicher: «Hätten wir ein Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt gehabt, hätte verhindert werden können, was geschehen ist. Der Vater wäre noch am Leben und die Mädchen wären nicht schwer traumatisiert.»
Gegenüber einer Journalistin sagte Angelina kurz nach ihrer Verhaftung, im Gefängnis könne es nicht schlimmer sein als zu Hause bei ihrem Vater.