Totenfeier beim Heldendenkmal für Frankreichs Afrika-Armee in Marseille. Die Ehrung gilt den algerischen Hilfssoldaten der französischen Kolonialarmee, die in beiden Weltkriegen und im Algerienkrieg auf Seiten der Franzosen kämpften.
«Wir hier im Süden haben die Opfer dieser Männer nicht vergessen und feiern sie jedes Jahr», sagt der stellvertretende Bürgermeister von Marseille zum Abschluss seiner Rede. Dann legt er ein üppiges Blumenbouquet vor das Denkmal. Ihm folgen Vertreter von lokalen politischen Behörden und militärischen Vereinigungen. Den Abschluss macht Malik Houambria, der Präsident der Harkis-Vereinigung der Provence.
Macrons Entschädigung von 40 Millionen Euro ist eine Beleidigung.
Die Harkis in Marseille sind allerdings nicht nur in Feierstimmung: Die Regierung in Paris hat verkündet, wie sie die Harkis und ihre Nachkommen entschädigen will. Malik Houambria ist empört: «Wir hatten grosse Erwartungen in Präsident Macrons Erklärung für die Sache der zwei Millionen Harkis gesetzt. Wir hatten auf eine grosse Geste gehofft, eine richtige Entschädigung, nicht die jetzt angekündigten 40 Millionen Euro, verteilt auf vier Jahre. Das ist eine Beleidigung.»
Vertreibungen und Massaker während des Algerienkriegs
Die Harkis fordern 40 Milliarden Euro, sagt Malika, die neben ihm steht. Dies entspreche dem moralischen und materiellen Schaden, der den Harkis durch Vertreibungen und Massaker während des Algerienkriegs entstanden sei.
Uns Flüchtlinge hat man damals zwischen Kläranlage und Kehrichtdeponie angesiedelt.
Deren Treue habe Frankreich später schlecht belohnt. Die Harkis-Flüchtlinge mussten in Lagern leben. Darunter auch ein Flüchtlingslager, wo das Vichy-Regime Gefangene für den Transport ins Konzentrationslager Ausschwitz gesammelt hatte. «Uns hat man damals zwischen einer Kläranlage und einer Kehrichtdeponie angesiedelt», ergänzt Youssef Djerfi, Präsident einer Harkis-Vereinigung aus Cannes.
Diskriminierung bis heute
Harkis und ihre Nachkommen erleben Diskriminierung in der Schule und bei der Arbeit – bis heute. Anfang Jahr hatte die Regierung Macron einen Bericht zur Lage der Harkis in Auftrag gegeben. Entstanden ist ein Buch mit 56 Vorschlägen, wie Frankreich den ehemaligen Hilfssoldaten und ihren Angehörigen helfen könnte.
Der Staat muss eingestehen, dass er diesen alten Kämpfern Unrecht getan hat und er sie entschädigen muss.
Auch Malik Houambria hat mit der Arbeitsgruppe gesprochen. «Dieser Bericht hat eine Maus geboren. Weil wir weiterhin verachtet und unsere Anliegen nicht ernst genommen werden. Unsere Eltern haben für Frankreich gekämpft und gelitten. Der Staat muss endlich seine Verantwortung übernehmen. Muss eingestehen, dass er diesen alten Kämpfern Unrecht getan hat und er sie entschädigen muss.»
Geschichte der Harkis als Schulstoff
Doch dafür fehlt dem Staat das Geld, heisst es im Bericht kurz und bündig. Dagegen soll die Geschichte der Harkis besser aufgearbeitet und künftig auch Schulstoff werden. Eine gute Idee, sagt die Historikerin Fatima Besnaci-Lancou – aber nicht einfach umzusetzen: «Wenn man dies zum Schulstoff macht, dann müssen zuerst die Lehrer entsprechend ausgebildet werden.
Auch Geschichtslehrer wüssten oft nicht genau Bescheid, so Besnaci-Lancou. «Der Algerienkrieg ist immer noch ein schwieriges Thema. Das kann schnell Streit innerhalb einer Klasse auslösen.» Vor allem dann, wenn in einer Klasse neben Harkis auch Kinder aus algerischen Migrantenfamilien sitzen. Denn in Algerien gelten Harkis noch immer als Verräter.
Eine differenzierte Sicht auf die Geschichte des Algerienkriegs würde vieles aufbrechen.
Aber das Risiko könnte sich lohnen, hofft Historikerin Fatima Besnaci-Lancou: «Wenn die Schüler lernen, wie die Harkis rekrutiert wurden, könnte man viele Manipulationen entlarven. Zum Beispiel die Behauptung von Algerien, dass Harkis das französische Kolonialsystem aufrechterhalten wollten. Die algerischen Bauern standen in den 1950er-Jahren von zwei Seiten unter Druck. In der Nacht mussten sie den Kämpfern der Befreiungs-Organisation FLN helfen, am Tag kam die französische Armee und warf ihnen vor, die FLN zu unterstützen. Eine differenzierte Sicht auf die Geschichte wäre hervorragend. Das würde vieles aufbrechen.»
Fatima Besnaci-Lancou kommt aus einer Harkis-Familie. Ihr Vater und ihr Grossvater kämpften in beiden Weltkriegen für die französische Armee. Die Historikerin hat vor bald 15 Jahren die Organisation «Harkis und Menschenrechte» mitbegründet. Anfangs dieser Woche wurde sie von Präsident Macron zur Ritterin der Ehrenlegion ernannt. Als eine der ersten Vertreterinnen der zweiten Harkis-Generation.
«Harkis und Menschenrechte» lobbyierte intensiv beim früheren Präsidenten François Hollande und brachte ihn vor zwei Jahren dazu, die politische und moralische Verantwortung Frankreichs gegenüber den Harkis einzugestehen. Der bisher wichtigste Schritt, sagt Fatima Besnaci-Lancou.
Der Algerienkrieg ist immer noch ein schwieriges Thema.
Doch der Algerienkrieg bleibt ein Reizthema: Emmanuel Macron hat vor zwei Wochen als erster Präsident offiziell eingestanden, dass Frankreichs Sicherheitskräfte unter dem Deckmantel von Spezialgesetzen systematisch gefoltert haben.
Tausende von Verschollenen
In der Geschichte des Algerienkrieges gibt es viele dunkle Flecken: Die Kolonialbehörde liess Tausende von Algeriern verhaften, unter dem Verdacht, für die Unabhängigkeit zu kämpfen. Viele von ihnen tauchten nie mehr auf. Auch Harkis beklagen Tausende von Verschwundenen – ebenso die französischen Siedler, die sich in Algerien niedergelassen hatten, sogenannte «pieds noirs»: Dafür verantwortlich sei die algerische Befreiungsfront FNL.
Präsident Macron hat angekündigt, dass er die Archive weiter öffnen will. Im Vergleich zu seinen Vorgängern hat Emmanuel Macron den Vorteil, dass er persönlich mehr Distanz zur französischen Kolonialzeit hat. Denn er ist der erste Präsident Frankreichs, der nach dem Ende des Algerienkriegs geboren wurde.