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Kompromiss im EU-Budgetstreit Die EU verpasste es, ihre Grundwerte entschlossen zu verteidigen

Polen und Ungarn haben während Wochen in der EU für rote Köpfe und viel Unverständnis gesorgt. Beide Länder haben einen Beschluss über 1800 Milliarden Euro verzögert, von dem beide Länder überdurchschnittlich profitieren, nur um zu verhindern, künftig an demokratischen Grundwerten gemessen zu werden.

Sie haben Bürgerinnen und Bürger, Wissenschaftlerinnen und Lehrlinge, Grossunternehmerinnen und Kleinbauern vor den Kopf gestossen. Denn diese sind ab dem 1. Januar 2021 auf EU-Gelder angewiesen, um in einem anderen Land zu studieren, neue medizinische Geräte zu erforschen, mehr Bio-Gemüse anzubauen und weniger Auto, sondern mehr Zug zu fahren.

Selbstbewusste Machthaber in Polen und Ungarn

Das Veto von Polen und Ungarn hatte mit der Sache nichts zu tun. Allen Beteiligten war auch schon lange klar, dass Polen und Ungarn werden nachgeben müssen. Denn beide Staaten wussten um den Plan B der anderen EU-Staaten, den EU-Haushalt und die Coronakredite notfalls auf anderen Wegen Realität werden zu lassen.

Das ist entlarvend. Denn trotzdem spielten Polen und Ungarn dieses Pokerspiel. Das ist bedenklich.

Denn es zeigt, wie selbstbewusst die Machthaber in Ungarn und Polen gegen Grundwerte der EU ankämpfen, obwohl es eigentlich selbstverständlich sein sollte, diese einzuhalten. Es muss zum Beispiel in der EU selbstverständlich sein, dass jeder Mensch jeden anderen Mensch lieben darf, unabhängig seines Geschlechtes, seiner Hautfarbe und seiner Religion, dass Gerichte unabhängig von der Politik sein müssen, und dass eine freie Meinungsbildung garantiert sein muss.

In Polen und Ungarn ist das nicht mehr selbstverständlich. Die EU liess sich in dieser Frage immerhin nicht erpressen. Der Rechtsstaatsmechanismus ist eine beschlossene Sache. Das EU-Budget und der Corona-Wiederaufbau-Programm nun auch.

EU liess sich auf Pokerspiel ein

Bedauerlich ist es allerdings, dass die EU sich überhaupt auf ein solches Pokerspiel einliess. Das EU-Parlament hätte schon lange beschliessen sollen, die Auszahlung von EU-Krediten an das Einhalten von demokratischen Grundregeln zu koppeln.

Es waren die 27 EU-Mitgliedstaaten, die im Rat jahrelang zögerten. Da mussten sich Polen und Ungarn nicht alleine fühlen. Hätten alle in dieser Frage früher entschieden, wäre ein Veto beim EU-Budget gar nicht möglich gewesen. Hätten die Mitgliedsländer früher damit gedroht, Milliardenkredite für die Bewältigung der Corona-Pandemie nur an liberale und nicht illiberale Staaten auszuzahlen, wären die Regierungen von Polen und Ungarn unter Druck geraten, nicht umgekehrt.

Hätten die Mitgliedsländer solche Grundwerte resolut verteidigt, dann hätten die Regierungen von Polen und Ungarn nicht einen faulen Kompromiss ihren Wählerinnen und Wählern nun als Erfolg verkaufen können. Die EU hätte mit mehr Weitsicht und viel Entschlossenheit, den beiden osteuropäischen Ländern diesen kleinen Sieg verwehren müssen.

Charles Liebherr

EU-Korrespondent

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Charles Liebherr ist EU-Korrespondent von Radio SRF. Davor war er unter anderem in der SRF-Wirtschaftsredaktion tätig, später war er Frankreich-Korrespondent. Liebherr studierte in Basel und Lausanne Geschichte, deutsche Literatur- und Sprachwissenschaft sowie Politologie.

Echo der Zeit, 10.12.20202, 19.00 Uhr

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