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Krawalle in Frankreich Gewaltausbruch in den Banlieues – ein Sturm mit Vorgeschichte

Frankreich ist nach der tödlichen Verkehrskontrolle eines Jugendlichen in einem Pariser Vorort seit drei Nächten im Krisenmodus. Der Aufstand aus den Banlieues sei eine Folge der jahrzehntelangen Vernachlässigung und der fehlenden Chancengleichheit, sagt Jürgen Ritte, Professor für Literaturwissenschaft und interkulturelle Studien an der Sorbonne.

Jürgen Ritte

Professor für Literaturwissenschaft

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Jürgen Ritte (geb. 1956) lebt seit 30 Jahren in Paris. Er ist Literaturkritiker, Essayist und Übersetzer und lehrt an der Université de la Sorbonne Nouvelle in Paris.

SRF News: Was beobachten wir da in Frankreich?

Jürgen Ritte: Ein Funke, der auf ein schwelendes Feld übergesprungen ist und sich zum Flächenbrand ausgeweitet hat. Noch ringen alle um Erklärungen, denn lokale Auseinandersetzungen um Polizeigewalt und Gewalt von Jugendlichen aus der Banlieue gibt es regelmässig. Nun ist der Aufstand aber national und die Lage brenzlig. Es ist wahrscheinlich der Aufschrei eines Teils der französischen Bevölkerung, die sich von dieser Republik vernachlässigt fühlt.

Ist es ein Problem der Banlieue, Stichwort Bildung und Chancengleichheit?

Die Chancengleichheit gibt es auf dem Papier. Das ist seit Jahrzehnten bekannt. Bereits der 2002 verstorbene Soziologe Pierre Bourdieu betonte immer wieder, dass alle es wüssten und niemand etwas dagegen tue. In den Banlieues gibt es multinationales und multi-ethnisches Publikum mit teilweise 28 Sprachen in Schulklassen mit 35 Kindern. Es bräuchte dreimal mehr Lehrkräfte. Sie sind allesamt miserabel bezahlt. Sie fangen mit 2000 Euro nach dem Studium an, um sich dann in den Problembezirken verheizen zu lassen. Da versagt der Staat, der gleichzeitig viel Geld in die Elitehochschulen und die Vorbereitung auf diese steckt.

Die Macht der Banden kommt nicht aus heiterem Himmel.

Wie kommt die Regierung aus dieser Misere heraus, wenn sich gewisse Banlieues quasi freiwillig abschotten und Parallelgesellschaften entstehen?

Alle Programme, die man startet, scheitern. Die Antwort war bisher immer Repression und Polizeigewalt. Nun sieht man den tragischen, vorläufigen Höhepunkt. Natürlich fordert die Gewalt in den Banlieues wöchentlich Tote durch Bandenkriminalität. Für die Polizei gibt es absolute No-Go-Zonen. Doch die Macht der Banden kommt nicht aus heiterem Himmel. Sie sorgen mit ihrem Drogenhandel dafür, dass schon 14-Jährige mehr als ihre Väter verdienen, die sich in Fabriken verheizen liessen. Es gibt zwar seit Jahrzehnten immer wieder rührende Versuche, die Kultur in die Vorstädte zu bringen. Doch sie sind auf eine tragische Weise zum Scheitern verurteilt.

Ist der Staat im Moment ratlos?

Ratschläge kommen nur von den ideologischen Rändern. Die extreme Rechte ist für weitere Gewalt und im Grunde für bürgerkriegsähnliche Zustände. Die extreme Linke sieht den Bankrott des Polizeistaats, der Frankreich angeblich ist. Beide Extreme profitieren von den herbeigeredeten, bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Was man zurzeit nur nachts erlebt, sehen sie wahrscheinlich schon aufs ganze Land ausgeweitet.

Es ist fraglich, ob die Menschen in den Banlieues das nötige Vertrauen haben und sich beruhigen.

Wie das beigelegt werden kann, ist offen. Die Justiz muss sprechen. Doch es ist fraglich, ob die Menschen in den Banlieues das nötige Vertrauen haben und sich beruhigen. Ein interessanter Aspekt: Nun gehen auch die Müttervereine der Banlieues auf die Strasse, um Gewalt ihrer Kinder zu verhindern. Denn diese Jungen lieben es nicht, wenn ihnen ihre Mütter beim Plündern zuschauen. Doch die Mütter machen damit auch deutlich, dass ihre Kinder nicht die Chancen erhalten haben, die sie verdient hätten.

Das Gespräch führte Ivana Pribakovic.

Rendez-vous, 30.06.2023, 12:30 Uhr ; 

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