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Nach tödlichem Polizeischuss Frankreich: Proteste gegen Polizeigewalt eskalieren wieder

  • Nach dem Tod eines Jugendlichen bei einer Polizeikontrolle bei Paris ist es die dritte Nacht in Folge in mehreren Städten Frankreichs zu Protesten gekommen.
  • Hintergrund ist eine Verkehrskontrolle im Pariser Vorort Nanterre, bei der ein 17-Jähriger durch den tödlichen Schuss eines Polizisten starb.

Beamten seien mit neuen Vorfällen in Marseille, Lyon, Pau, Toulouse und Lille konfrontiert worden, teilte die nationale Polizei am Donnerstagabend mit. «Die Antwort des Staates muss äusserst entschlossen sein», sagte Innenminister Gerald Darmanin in der nördlichen Stadt Mons-en-Baroeul, wo mehrere städtische Gebäude in Brand gesetzt worden waren.

In Nanterre bei Paris, wo der 17-Jährige am Dienstag ums Leben gekommen war, wurde am Donnerstagabend eine Bankfiliale in Brand gesetzt, wobei die Flammen auf ein darübergelegenes Wohngebäude übergriffen. Die Feuerwehr löschte den Brand, ohne dass Menschen zu Schaden kam.

Personen stehen in der Nacht auf einer Strasse. Um sie sind durch Flammen verwüstete Autos
Legende: Im Pariser Vorort Nanterre ist es auch in der Nacht auf Freitag zu Protesten gekommen. Reuters/Gonzalo Fuentes

Im Anschluss an einen Trauermarsch für den erschossenen Jugendlichen gab es in Nanterre am Donnerstagabend bereits Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und der Polizei. Die Beamten wurden mit Molotow-Cocktails beworfen, die Polizei überwachte die Lage mit Hubschraubern und zog Spezialkräfte zusammen, 19 Menschen wurden festgenommen.

Einschätzung von SRF-Frankreich-Korrespondentin Simone Hoffmann

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«Nie wieder!» und «Gerechtigkeit für Nahel» riefen die über sechstausend Teilnehmer an dem Friedensmarsch heute. Doch auch ein anderer Ruf war zu hören: «Polizei, Mörder!». Die Anspannung war überall spürbar. Der Marsch war überschattet von düsteren Gewitterwolken, zu denen sich Tränengas gesellte. All die Wut, die Verzweiflung, schien sich hier zu entladen, und gipfelte in den ersten Zusammenstössen zwischen vermummten Jugendlichen und der Polizei. Wenig später schwärzten Rauchwolken von ersten Bränden den Himmel.

Die heutigen Geschehnisse, und die Bilder der letzten zwei Nächte lassen hier in Frankreich das Schreckensgespenst der Aufstände in den Vorstädten wieder auferstehen. Im Herbst 2005  waren zwei Jugendliche gestorben, nachdem sie vor der Polizei geflüchtet waren. Wochenlang kam es zu gewaltsamen Ausschreitungen in den Vorständen. Der stellvertretende Bürgermeister von Nanterre sagte auf die Frage, was geschehen müsse, damit sich 2005 nicht wiederholt: «Die Justitz muss den Fall schnell aufklären. Erst, wenn Gerechtigkeit herrscht, wird die Lage sich wieder beruhigen.»

In der Hafenstadt Marseille gerieten Hunderte Protestierende mit der Polizei aneinander, Geschäfte wurden geplündert und 14 Menschen festgenommen. Die Polizei feuerte Tränengas ab, berichtet die Zeitung «La Provence». In Lille, Lyon und in Bordeaux kamen Spezialeinheiten der Polizei zum Einsatz. In Grenoble wurde ein Bus mit Feuerwerkskörpern beschossen und die Beschäftigten der Verkehrsbetriebe legten daraufhin die Arbeit nieder.

Landesweit sind 40'000 Polizisten im Einsatz, rund viermal so viele wie noch am Mittwochabend. In der Region Paris fahren seit Donnerstagabend keine Busse und Strassenbahnen mehr, im acht Kilometer vom Pariser Stadtzentrum entfernten Clamart gilt eine nächtliche Ausgangssperre bis Montag. Allein 5000 Polizisten sollen im Grossraum Paris im Dienst sein.

Menschen nehmen am Donnerstag an einem Gedenkmarsch für den verstorbenen Teenager in Nanterre teil.
Legende: Menschen nehmen am Donnerstag an einem Gedenkmarsch für den verstorbenen Teenager in Nanterre, einem Vorort von Paris, teil. REUTERS/Sarah Meyssonnier

Beim Trauermarsch am Donnerstag in Nanterre trugen viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer weisse T-Shirts mit der Aufschrift «Gerechtigkeit für Nahel» und Schilder, auf denen «Die Polizei tötet» zu lesen war. Die Mutter des am Dienstag erschossenen Jugendlichen sass auf dem Dach eines Autos im Zentrum des Marsches durch den Vorort von Paris.

Ermittlungen gegen Polizisten eingeleitet

Eine Motorradpatrouille hatte den 17-jährigen Jugendlichen am Dienstagmorgen am Steuer eines Autos in Nanterre bei Paris gestoppt. Als der junge Mann plötzlich anfuhr, fiel der tödliche Schuss aus der Dienstwaffe des Polizisten. Dieser befindet sich weiterhin im Polizeigewahrsam. Gegen ihn wird wegen Verdachts auf Totschlag ermittelt.

Zunächst hatten die beiden an der Kontrolle beteiligten Polizisten laut dem Sender France Info ausgesagt, der Jugendliche habe sie überfahren wollen. Erst als sich von dem Sender verifizierte Videobilder des Vorfalls in den sozialen Netzwerken verbreiteten, rückten sie von dieser Darstellung und der angeblichen Tötungsabsicht des Jugendlichen ab.

Macron: «Das ist nicht zu entschuldigen»

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Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat mit Mitgefühl und klaren Worten auf den Tod des 17-Jährigen durch einen Polizeischuss reagiert. «Wir haben einen Jugendlichen, der getötet wurde, das ist nicht zu erklären und nicht zu entschuldigen», sagte Macron in Marseille.

«Zunächst möchte ich die Emotion der ganzen Nation ausdrücken – nach dem, was geschehen ist und dem Tod des jungen Nahel – und der Familie unsere ganze Solidarität und das Mitgefühl der ganzen Nation ausdrücken.» Er wolle, dass die Justiz ihre Arbeit in Ruhe mache und die Wahrheit so schnell wie möglich offengelegt werde: «In so einem Zusammenhang braucht es Zuwendung und Respekt für den jungen Nahel.»

Das Video zeigt, wie der Beamte seine Waffe bei der Verkehrskontrolle auf Höhe der Fahrertür in das stehende Auto richtet. Die Situation scheint unter Kontrolle, hektische Bewegungen sind nicht zu erkennen. Als der 17-Jährige plötzlich losfährt, feuert der Beamte aus nächster Nähe auf den Jugendlichen und trifft ihn tödlich in die Brust.

SRF 4 News, 30.06.2023, 03:00 Uhr ; 

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