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International Kriegsverbrecherjustiz kommt vermehrt unter Druck

Das Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien sorgt mit unverständlichen Freisprüchen für Aufsehen. Werden nur Handlanger verurteilt und nicht mehr die Drahtzieher? Der Druck auf das Gericht ist laut Experten spürbar gewachsen – auch von Staaten wie den USA, die sich absichern wollen.

120‘000 Tote, drei Millionen Vertriebene. Das ist die Bilanz der Balkankriege der 1990er Jahre. 69 Schuldige hat das Jugoslawien-Tribunal bisher verurteilt. Doch nun auf einmal dies: Freispruch für den Generalstabschef der jugoslawischen Armee, Freisprüche für zwei kroatische Generäle, Freisprüche für zwei serbische Spitzenfunktionäre. Es sei den Angeklagten nicht nachzuweisen, dass sie selber das Töten befohlen hätten, lautet die Begründung.

Kenneth Roth, Chef der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW), akzeptiert diese Argumentation nicht und stellt die Frage: «Welcher politische oder militärische Verantwortliche ist schon so dumm, selber Kriegsverbrechen anzuordnen?»

Folgenschwere Kehrtwende?

Die eigentlichen Drahtzieher lassen also morden, signalisieren Untergebenen, dass sie ruhig töten können, setzen oft gar – wie jetzt Diktator Bashar al-Assad in Syrien – auf Killerkommandos, die angeblich unabhängig von der Regierung agieren. «Auch in solchen Fällen müssen Verurteilungen möglich sein – wegen massgeblicher Beteiligung an Vebrechen», fordert Roth.

Die Kehrtwende in der Rechtssprechung wird nicht nur von Experten von aussen, sondern erstaunlicherweise sogar von Richtern am Haager Tribunal selber kritisiert. Der dänische Richter Frederik Harhoff äusserte sich in einem Brief an mehrere Adressaten äusserst scharf.

Strafrechtler Trechsel: Urteile nicht überzeugend

Der Schweizer Richter Stefan Trechsel, dessen Mandat in Den Haag eben ablief, tut es im Gespräch: «Ich muss das leider zugeben, ich fand vor allem das Urteil gegen den kroatischen Ex-General Ante Gotovina empörend.» Ebenso wenig überzeugend seien die Urteile im Fall des einstigen Generalstabschefs der Jugoslawischen Volksarmee, Momcilo Perisic, des früheren serbischen Geheimdienstchefs Jovica Stanisic und seines Stellvertreters Franko Simatovic.

Probleme sieht Strafrechtler Trechsel bereits bei der Urteilsfindung. So sei Richter Mehmet Güney aus der Türkei von Gerichtspräsident Theodor Meron «intensiv bearbeitet» woderden und habe dann seine Meinung geändert.

Tribunal-Präsident Meron, ein angesehener israelisch-amerikanischer Jurist, gilt denn auch als treibende Kraft hinter der neuen Gerichtspraxis. Ihm wird vorgeworfen, auf Druck vor allem der USA und anderer westlicher Länder gehandelt zu haben. Es heisst auch, er tausche sich intensiv mit den US-Behörden über die Fälle des Tribunals aus, was er als Richter nicht tun dürfte.

HRW-Chef Roth: Rücksicht auf US-Interessen

Natürlich bestreite Meron die Vorwürfe, stellt Trechsel fest. Er geht zugleich davon aus, dass Meron im konkreten Fall nicht direkt unter Druck stand. Auch Roth hält Meron grundsätzlich für integer. Aber er vermutet, dass dieser und andere Richter vorauseilend Rücksicht nahmen auf US- und andere Interessen: Es soll verhindert werden, dass westliche Politiker oder Militärs dereinst vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagt werden, falls sie etwa syrische Rebellen unterstützen oder mit Waffen beliefern.

Laut Roth geht es aber beileibe nicht nur um Syrien. Viele andere Regierungen fürchteten, ihre eigenen Verantwortlichen könnten irgendwann angeklagt werden – selbst solche, die die internationale Strafjustiz grundsätzlich unterstützten. Trechsel argumentiert ähnlich: «Letzlich ging es wirklich darum, Verantwortlichkeit zu verdünnen. Die Urteile sind tatsächlich geeignet, Generäle zu beruhigen.»

Chefankläger: «Es ist eine schwierige Zeit für die Anklage»

Gerichtspräsident Meron, ein Überlebender der Nazi-Konzentrationslager, weist solche Kritik gegenüber der BBC zurück: Freisprüche gehörten nun einmal zu Justizverfahren. Das Gericht habe keine politische Agenda.

Serge Brammertz hingegen, der Chefankläger des Tribunals, liess kürzlich im UNO-Sicherheitsrat seinen Unmut zumindest diplomatisch anklingen: «Es ist eine schwierige Zeit für die Anklage. Doch man muss die Urteilsspruche akzeptieren.»

Potienzielle Kandidaten

Falls die jüngsten Urteile Schule machten, werde es fast unmöglich, die Mächtigen zu verurteilen, zeigt sich HRW-Chef Roth besorgt. Und er fragt sich, ob am Ende nicht auch der liberianische Menschenrechtsverbrecher Charles Taylor freigesprochen wird. Oder ob ein Urteil gegen Diktator Bashar al-Asssad je möglich wird.

Das Tribunal müsse deshalb die Praxis überdenken und wieder zur früheren Rechtsprechung zurückkehren, fordert Roth. Also dazu, dass eine «substanzielle Beteiligung» an einem Kriegsverbrechen für eine Verurteilung ausreicht.

«Nutzen und Schaden der Kriegsverbrecherjustiz»

Doch eine neuerliche Kehrtwende scheint schwierig. Zumal zurzeit in der UNO die Stimmen wieder lauter werden, die ein internationales Strafgericht grundsätzlich ablehnen, das aber in den vergangenen Jahren kaum laut zu sagen wagten. So meint der Serbe Vuc Jeremic als Präsident der UNO-Generalversammlung, man müsse doch über Nutzen und Schaden der Kriegsverbrecherjustiz offen diskutieren dürfen.

In einer Debatte äusserten sich Dutzende von Ländervertretern ebenfalls negativ. Worauf der Schweizer UNO-Botschafter Paul Seger als einer der Wenigen die Kritiker kritisierte und die zentrale Rolle der Strafjustiz bei der Ahndung von Kriegsverbrechen und bei der Abschreckung hervorhob.

Für HRW-Chef Roth ist klar: «Die internationale Strafjustiz ist ein historisch bedeutsamer Fortschritt. Sie wird stets umstritten bleiben und muss ständig neue verteidigt werden.»

(brut)

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