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Krise in Venezuela «Es ist eins vor zwölf in Caracas»

Präsident Maduro ist zu weit gegangen – USA wittern billigen Sieg: Thesen des früheren Chavez-Beraters Heinz Dieterich.

Der linke Intellektuelle Heinz Dieterich lehrt Soziologie in Mexiko und gilt als geistiger Vater des Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Ein Konzept, das Präsident Hugo Chavez als Etikette für seinen Versuch verwendete, in Venezuela ein linkes Regime zu begründen. Sein Nachfolger Nicolas Maduro zeichnet verantwortlich für einen toxischen Mix aus Inkompetenz, Unterdrückung und Korruption, an dem das Ölland ausblutet. Es sei «eins vor zwölf» in Venezuela, sagt Dieterich, dessen Beraterdienste nach dem Krebstod von Chavez nicht mehr gefragt sind.

Heinz Dieterich.
Legende: Sozialwissenschaftler Heinz Dieterich verfasste unter anderem das Werk «Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts». Wikimedia

Dieterich zieht den Vergleich mit den letzten Tagen von Berlin im Zweiten Weltkrieg heran: «Heute können wir von einer Schlacht um Caracas sprechen.» Maduro habe die wesentlichen Elemente der Macht schon seit langem verloren. Die Unterstützung der Massen fehle ebenso wie die ökonomische Überlebensfähigkeit. Offen sei nur noch die Frage der Waffen, doch auch die Kohäsion innerhalb des Militärs sei im Wesentlichen vorbei, sagt Dieterich.

Die USA haben die Entscheidung getroffen. Damit ist die Sache gelaufen.
Autor: Heinz Dieterich

Jetzt spitzt sich die Lage zu, weil sich Maduro erneut vereidigen lassen will, obwohl die meisten lateinamerikanischen und westlichen Länder die als unsaubere geltende Wahl vom letzten Mai nicht anerkennen. Das de facto entmachtete Parlament ruft die Streitkräfte auf, Maduro im Namen von Recht und Verfassung daran zu hindern. Das Parlament will die Führung übernehmen und Neuwahlen organisieren.

Wenn Maduro das nicht akzeptiere, werde die Nationalversammlung – unterstützt von Washington, der Lima-Gruppe und Teilen der Streitkräfte sowie der Opposition – das Land zum Stillstand bringen. Das könne sehr gewalttätig werden: «Die USA haben die Entscheidung getroffen, Maduro und sein Regime abzusetzen. Damit ist die Sache gelaufen», so der Soziologe.

Dieterich verweist auf reaktionäre Trump-Entourage

In der Praxis ist die Sache aber noch nicht gelaufen. Denn Dieterich hat den Sturz Maduros schon mehrfach vorausgesagt, dabei aber stets falsch getippt. Richtig ist: Venezuela war noch nie so stark isoliert wie heute. Die Lima-Gruppe der grösseren Länder Lateinamerikas sieht in Maduro mit Ausnahme Mexikos einen illegitimen Präsidenten.

Dietrich stützt seine Einschätzung auch auf die Zusammensetzung der Trump-Regierung – auf Leute wie den nationalen Sicherheitschef John Bolton und Aussenminister Mike Pompeo, den ehemaligen CIA-Chef. «Die Aussenpolitik wird heute von Miami, dieser reaktionären Truppe der Anti-Kubaner gemacht», sagt Dietrich. Sogenannt autoritäre oder sozialistische Regierungen sollen von der Landkarte verschwinden. «Das sagen sie auch offen: Venezuela, Nicaragua und Kuba», so Dieterich.

«Venezuela braucht einen Marshallplan»

Selbst wenn man wie Dieterich in Venezuela ein von den USA angestossenes Ende mit Schrecken für besser hält als ein Schrecken ohne Ende – das Land mit den grössten ausgewiesenen Erdölreserven der Welt wird sich wirtschaftlich nicht aus eigener Kraft aus dem Schlamassel befreien können.

Für die USA laufe die Entmachtung von Maduro auf einen billigen Sieg heraus, glaubt Dieterich. Das Land brauche einen Marshallplan, denn die Wirtschaft müsse von Null an rekonstruiert werden. Trump werde einen aussenpolitischen Erfolg feiern können und Diktator Ortega in Nicaragua als nächsten ins Visier nehmen. «Dann gibt es im Grund keine politischen Kosten für die gegenwärtige Machtgruppe in den USA», so Dieterich.

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