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International «Menschen können durch schreckliche Erlebnisse auch reifen»

Die Menschen in Paris suchen nach Wegen zurück in den Alltag. Ein Zurück ins Leben vor den Attentaten gibt es nicht. Traumatherapeut Christian Lüdke erklärt den Sinn von öffentlichem Trauern und nennt Bewältigungsstrategien.

SRF News: Haben Sie heute um 12 Uhr auch geschwiegen?

Christian Lüdke

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Legende: IMAGO

Der Traumatherapeut war schon bei den Anschlägen auf das World Trade Center, aber auch bei grossen Naturkatastrophen wie dem Tsunami-Unglück 2004 als Fachmann engagiert.

Christian Lüdke: Ich habe in dem Moment kurze Zeit geschwiegen, um an die Opfer und an die Betroffenen zu denken. Denn das ist ein Teil von Wertschätzung und wir wissen, dass Wertschätzung den Menschen hilft, solch schreckliche Erlebnisse besser verarbeiten zu können.

In ganz Europa haben Menschen diese Schweigeminute eingehalten. Es werden aber auch Blumen niedergelegt, Kerzen hingestellt und es wird gemeinsam getrauert. Wozu dient das?

Das ist ein ganz wichtiges Ritual. Es ist im Grunde genommen ein äusseres Zeichen für eine innere Verpflichtung, hier deutlich zu machen: «Wir sind stärker. Wir halten zusammen.» Und letztlich geht es darum zu zeigen, dass das Licht immer den Schatten vertreibt und niemals umgekehrt.

Was hilft den Menschen in Paris zusätzlich, um mit diesen schrecklichen Erlebnissen fertig zu werden?

Es ist ganz wichtig, dass man viel Ruhe und Abstand bekommt. Wesentlich ist auch, dass man stabile Menschen in seinem Umfeld hat, die Hoffnung und Zuversicht vermitteln. Für viele Menschen in Paris wird nichts mehr so sein, wie es vorher gewesen ist. Aber sie sind in der Lage das Ganze zu verarbeiten. Das Leben, das sie jetzt weiterführen werden, wird nicht schlechter sein, sondern anders.

Für die Hinterbliebenen und auch für die Öffentlichkeit ist es ganz wichtig zu wissen, wer die Täter sind.

Inwiefern wird das Leben anders?

Menschen können durch solch schreckliche Ereignisse auch reifen. Es gibt immer etwas Gutes im Schlechten. Das kann dazu führen, dass man enger zusammenrückt oder dass alte Konflikte plötzlich beigelegt werden. Es kann auch sein, dass man achtsamer lebt und die Bereitschaft erhöht, auf sich selbst und andere Menschen besser aufzupassen.

Wie wichtig ist es zu wissen, wer die Tat ausgeübt hat?

Für die Hinterbliebenen und auch für die Öffentlichkeit ist es ganz wichtig zu wissen, wer die Täter sind. Für uns Menschen ist die Ungewissheit, nicht zu wissen woher die Bedrohung kommt, das Schlimmste. Diese Informationen geben uns Menschen letztlich eine enorme Sicherheit, damit unser grundlegendes Sicherheitsgefühl wieder hergestellt werden kann.

Unser Körper ist von Natur aus in der Lage, solche schrecklichen Dinge zu verarbeiten, wenn er ausreichend Zeit hat.

Kann jemand, der den Anschlag im Konzertlokal Bataclan überlebt hat, jemals wieder an ein Konzert gehen?

Menschen, die im Konzertsaal waren, stehen jetzt noch unter Schock. Es wird Monate dauern bis sie das Ganze verarbeiten können – das Schlimme ist die Sinnlosigkeit der Tat. Für etwa zwei Drittel der Beteiligten wird es aber langfristig wieder möglich sein, auf Konzerte zu gehen. Allerdings wird es einem Teil der Menschen sehr schwer fallen. Das sind oft Menschen, die schon einmal schreckliche Schicksalsschläge hinnehmen mussten. Bei ihnen führt dieses Erlebnis dazu, dass die normalen Bewältigungsstrategien jetzt versagen. Sie brauchen in jedem Fall therapeutische Hilfe.

Welches sind die normalen Bewältigungsstrategien?

Dazu gehört sich abzulenken, rauszugehen, Sport zu machen. Das heisst, natürliche Rauschzustände zu erleben und sich mit anderen Menschen auszutauschen. Jeder Mensch hat ganz individuelle Strategien, Abstand zu gewinnen und die Aufmerksamkeit wieder auf schöne Dinge zu lenken. Letztendlich ist unser Körper von Natur aus in der Lage, solche schrecklichen Dinge zu verarbeiten, wenn er ausreichend Zeit hat. Wichtig ist auch, dass wir uns nicht immer mit dem Grauenvollen konfrontieren. Denn jede Konfrontation führt zu einer Erlebnisaktivierung und diese bewirkt am Ende auch eine Retraumatisierung.

Audio
«Das Leben danach wird nicht schlechter sein - nur anders»
aus Echo der Zeit vom 16.11.2015. Bild: Reuters
abspielen. Laufzeit 5 Minuten 38 Sekunden.

Sie haben nach den Anschlägen auf das World Trade Center in New York betroffene Familien betreut. Gehen die Leute in den USA anders mit der Bewältigung um als beispielsweise die Menschen in Frankreich?

Es gibt nationale Strategien. Ich habe es aber erlebt, dass diese eher durch den religiösen Hintergrund gekennzeichnet sind. Das Trauerverhalten von Amerikanern und Europäern erlebe ich als sehr ähnlich. Bei Opfern im asiatischen Raum nach Tsunami-Katastrophen habe ich andere Erfahrungen gemacht. Dort trauen die Menschen viel kürzer aber auch heftiger. Wobei man einen Unterschied zwischen Gewalttat und Naturkatastrophe machen muss. Bei zweitem ist die Natur schuld. Beim Terroranschlag ist die Sinnlosigkeit der Tat das Schlimmste.

Wie kanalisiert man seine Wut?

Die Wut kanalisiert man zunächst einmal in der Fantasie, indem man den Tätern das Schlimmste wünscht, was man sich vorstellen kann. Rache und Vergeltungsfantasien sind also völlig normal. Angestaute Wut können wir am besten über Bewegung und Sport abbauen. Das hilft, diese unbewussten auch aggressiven Spannungen abzubauen.

Das Gespräch führte Simone Fatzer.

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