Das Wichtigste in Kürze
- 138 anonyme Meldungen sind in einer Woche beim Politmagazin Politico eingegangen. 127 Frauen und 11 Männer sollen darin angeben, rund um den Betrieb des Europaparlaments sexuell belästigt worden zu sein.
- Dazu gehören etwa EU-Arbeitsverträge, die laut dem Magazin im Tausch gegen sexuelle Dienstleistungen ausgegeben wurden, oder junge Frauen, die aufgefordert wurden, Politikern sexuelle Dienstleistungen zu erbringen, um daraus politisches Kapital zu schlagen.
Am Wochenende hatten «Politico» und die britische «Sunday Times» Berichte über sexuelle Belästigung im EU-Parlament veröffentlicht. Das Thema steht zudem im öffentlichen Fokus, seitdem die Anschuldigungen gegen den US-Filmproduzenten Harvey Weinstein einen weltweiten kollektiven Aufschrei unter dem Schlagwort « #MeToo » («Ich auch») ausgelöst hatten.
Sonderdebatte im EU-Parlament
Am Mittwoch wurde das Thema jetzt in einer Sonderdebatte des EU-Parlaments diskutiert. Dabei äusserten sich Stimmen wie die deutsche Grüne Terry Reintke, die bekannte, dass sie auch schon sexuell belästigt worden sei, oder die spanische Sozialdemokratin Iratxe García Pérez, die forderte: «Keinen Angriff mehr auf die Würden der Frauen, kein komplizenhaftes Schweigen, kein Wegschauen mehr.»
Ein Thema, das bei der Debatte behandelt wurde, waren die Beschwerdeinstanzen. Anders als bei Politico hatte parlamentsintern so gut wie niemand eine Belästigung gemeldet. «Heute gibt es im Parlament Instrumente, um gegen sexuelle Belästigung vorzugehen. Es ist aber offensichtlich, dass diese nicht funktionieren», sagte García Pérez. Zahlreiche Abgeordnete fordern deshalb eine externe Untersuchung. Am Donnerstag wird darüber abgestimmt.
Heute gibt es im Parlament Instrumente, um gegen sexuelle Belästigung vorzugehen. Es ist aber offensichtlich, dass diese nicht funktionieren
Ein Grund, wieso viele Belästigungen nicht angesprochen werden, könnte das Machtgefüge sein. Laut SRF-Brüssel-Korrespondent Oliver Washington steht der Verdacht im Raum, dass sich die betroffenen Frauen nicht bei den offiziellen Beschwerdeinstanzen gemeldet haben, weil sie befürchten, dass das ihrer Karriere schaden könne.
Gefordert wurde zudem ein EU-weites Gesetz gegen sexuelle Belästigung. EU-Kommissarin Cecilia Malmström zeigte sich offen für solche Vorhaben, gab allerdings zu bedenken, dass die rechtlichen Grundlagen, um gegen sexuelle Gewalt gegen Frauen vorzugehen, eigentlich ausreichend seien. In manchen Mitgliedstaaten sei vielmehr die Umsetzung das Problem.
Das Wort haben in der Debatte am Mittwoch übrigens über 40 Frauen, aber nur ganz wenige Männer ergriffen.
EU, Institutionen und Hollywood: Sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz. Warum gerade dort, warum gerade jetzt? Interview mit einer Expertin
SRF News: Frau Amstutz, überraschen Sie die Fälle der sexuellen Belästigung im Europaparlament?
Nathalie Amstutz, Dozentin für Personalmanagement: Nein. Wir wissen seit langem, dass sexuelle Belästigung in zahlreichen Organisationen und Branchen vorkommt. Wir wissen zudem, dass die Zahl der gemeldeten Fälle jeweils steigt, wenn das Thema öffentlich wird.
Bedeutet das, dass es eine grosse Dunkelziffer gibt?
Ja.
Im Moment sprechen wir von Hollywood und dem EU-Parlament. Sind das Orte, an denen sexuelle Belästigung öfters vorkommt?
Ob es tatsächlich häufiger vorkommt, kann ich so nicht sagen. Es gibt aber Parallelen zwischen den Organisationen: Beide haben mit Öffentlichkeit zu tun und erfahren viel Aufmerksamkeit. Beides sind Grossorganisationen mit vielen tausend Mitarbeitern, die kommen und gehen. Bei Hollywood kommt sicher noch dazu, dass die Geschlechterkultur dieser Organisation nicht unproblematisch ist. Das sehen wir ja auch in den Produkten, die dort hergestellt werden.
Die Tatsache, dass ein US-Präsident sich sexistisch formuliert und trotzdem gewählt wird, gibt zu denken.
Es gibt immer wieder solche Fälle, sie verschwinden aber häufig schnell aus dem öffentlichen Gespräch ohne das etwas passiert. Ist die aktuelle Sensibilisierung nachhaltiger?
Es gibt zwei Gründe, wieso sich viele Personen in diese Fälle einmischen und viel sichtbar wird: Die Tatsache, dass ein US-Präsident sich sexistisch formuliert und trotzdem gewählt wird. Das gibt zu denken und es entsteht eine Debatte darüber, wie Gleichstellung aussehen soll. Anscheinend wollen wir die ja alle. Wir erwarten einen hohen Grad an Selbstständigkeit in Bezug auf Gleichstellung. In der Arbeitswelt leuchten aber dann – beispielsweise durch sexuelle Belästigung – Punkte auf, durch die man sieht, dass Thema ist noch nicht ad Acta zu legen.
Das Thema müsste ins Alltagsbewusstsein verankert werden. Es ist ja nicht so, dass wir zuvor nicht wussten, dass es da ist.
Wenn sie zwei Präventionsmassnahmen gegen sexuelle Belästigung vorschlagen könnten, was wäre es?
Das Thema müsste ins Alltagsbewusstsein verankert werden. Es ist ja nicht so, dass wir zuvor nicht wussten, dass es da ist. Organisationen müssen sich fragen, wie nehmen wir dieses Wissen auf und was tun wir damit. Als zweites müsste die Präventionspflicht erfüllt werden. Das bedeutet, dass der Begriff fassbar gemacht werden sollte und es sollte klar sein, was man im Fall von sexueller Belästigung tun sollte. So müssen die betroffenen Personen das Thema nicht alleine aufgreifen und die Vorgesetzten in den Teams können professionell damit umgehen. Das Thema sollte verbalisiert und nicht tabuisiert sein.