Unmut über Armut und Hunger treibt die Tunesier wieder in mehreren Städten auf die Strassen. Ein Demonstrant kam ums Leben. Das erinnert an die Revolution, die vor rund sieben Jahren in Tunesien begann und in den «Arabischen Frühling» mündete.
SRF News: Sie halten die Lage in Tunesien für beunruhigend. Weshalb?
Beat Stauffer: Weil die gewalttätigen Zusammenstösse, Proteste und auch Plünderungen genau an denselben Orten stattfinden wie vor sieben Jahren. Beunruhigend ist auch, dass es wieder sehr junge Leute sind, die sich auf diese Weise Gehör verschaffen.
Der Migrationswunsch vieler junger Tunesier ist extrem hoch, und das ist sehr beunruhigend.
Vor sieben Jahren gingen die Sicherheitskräfte brutal gegen die Demonstranten vor. Ist das heute auch so?
Nein. Das ist ein klarer Unterschied. Die Polizei ist bisher sehr zurückhaltend vorgegangen. Ein Mann ist zwar gestorben, aber die Umstände seines Todes sind nicht klar. Es sind auch Verletzte zu beklagen. Doch mit der Situation im Dezember 2010 ist es nicht vergleichbar.
Mit der Situation im Dezember 2010 ist es nicht vergleichbar.
Sie waren vor ein paar Wochen in Tunesien. Hat sich damals schon abgezeichnet, dass es zu Unruhen kommen könnte?
Zum einen hat es im Süden des Landes schon monatelange Proteste gegeben, die die Regierung nicht stoppen konnte. Zum anderen sagten mir alle meine Gesprächspartner übereinstimmend, im Januar werde es zu einer Explosion kommen. Man hat gemerkt, dass die Frustration und Unzufriedenheit vor allem bei jungen Leuten im Hinterland Tunesiens sehr hoch ist.
Der Frust ist so hoch, weil sich für die junge Generation vor allem in ländlichen Gebieten die Lage in den letzten sieben Jahren deutlich verschlechtert hat.
Tunesien ist das einzige Land, dem nach dem «Arabischen Frühling» der Übergang zur Demokratie gut gelungen ist. Warum sind die Jungen trotzdem unzufrieden?
Der Frust ist so hoch, weil sich für die junge Generation vor allem in ländlichen Gebieten die Lage in den letzten sieben Jahren verschlechtert hat, und zwar deutlich. Sie sehen keine Perspektiven, haben keine Geduld mehr und sind ausserordentlich enttäuscht über die Politiker, die den Ernst der Lage offenbar nicht begreifen. Ein weiterer Faktor ist, dass auf lokaler Ebene nichts verändert worden ist: Lokalwahlen werden erst in ein paar Monaten stattfinden. Das war vermutlich ein grosser Fehler der sogenannten tunesischen Revolution.
Was sagen die Jugendlichen über die Situation in ihrem Land?
Sie erklärten mir, dass sie in keiner Art und Weise an Politik interessiert seien. Ich habe immer wieder ihre Ablehnung gegenüber dem System gespürt, ihre Verachtung gegenüber der Regierung, ihre Zweifel an möglichen Veränderungen. Das Erschreckendste war die Begegnung mit einem 17-Jährigen, der ein Schiffsunglück vor der Küste von Lampedusa als einziger von elf Leuten überlebt hat. Er sagte, er wolle wieder ausreisen. Der Migrationswunsch vieler junger Tunesier ist extrem hoch, und das ist sehr beunruhigend.
Politiker begreifen den Ernst der Lage offenbar nicht.
Droht eine zweite Revolution in Tunesien?
Viele Leute sprechen davon. Ob es soweit kommen wird, ist nicht klar, da solche Ereignisse immer eine Eigendynamik haben. Doch viele Tunesierinnen und Tunesier haben Angst um die Stabilität ihres Landes. Kommentatoren sagen, Tunesien befinde sich am Abgrund. Man hat Angst vor anarchischen Verhältnissen, was sich auf eine landesweite Ausbreitung der Aufstände dämpfend auswirken könnte.
Die Situation offenbart die Schwäche der tunesischen Regierung, mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage umzugehen.
Könnten die neuen Proteste der Regierung gefährlich werden?
Es ist gut vorstellbar, dass Regierungschef Youssef Chahed oder vielleicht gar die gesamte Regierung zurücktreten müssen. Die Situation offenbart die Schwäche der tunesischen Regierung, ihre fehlenden Möglichkeiten, mit der schwierigen wirtschaftlichen Lage umzugehen. Das Land befindet sich in einem Klammergriff. Wie es sich aus dieser Lage befreien kann, ohne dass die Autorität des Staates in Frage gestellt wird, ist nun entscheidend.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.