SRF News: Vor wenigen Wochen hatte Mohammed bin Salman bereits angekündigt, Frauen dürften in Zukunft alleine Autofahren. Jetzt verspricht er einen «moderaten Islam». Steckt Saudi-Arabien in einem Reformprozess?
Reinhard Schulze: Ja. Der Reformprozess hat sich in den letzten Jahren schon angedeutet, als immer mehr klassisch-islamische Institutionen ihre Macht über die öffentliche Ordnung verloren. Nun zeigt der Kronprinz, dass es ihm darum geht, den Islam wieder mehr in eine Staatsräson, in die Modernisierung Saudi-Arabiens insgesamt, einzubinden und damit die Allianz mit dem Westen zu verstärken.
Was will Saudi-Arabien zusammen mit dem Westen erreichen?
Saudi-Arabien steht bislang immer im Generalverdacht, in irgendeiner Art skurrile oder gar islamistische Organisationen wie der sogenannte Islamische Staat finanziell zu unterstützen, das hat das Image des Landes stark beschädigt. In der Tat haben sich einige Bewohner dem «IS» angeschlossen. Aber Saudi-Arabien will nun den Eindruck erwecken, dass zwischen der eigenen, wahabitischen Staatskultur und den radikalen Kampfbünden im Irak und Syrien keinerlei Beziehung besteht. Das bedeutet, die Ordnung im Land so zu verändern, dass der Verdacht nicht mehr aufkommt, dass es doch solche Beziehungen gäbe.
«Moderater Islam»: Was bedeutet das für die Menschen im Alltag?
Der Islam wahabitischer Interpretation dient dazu, eine Sozialordnung zum Ausdruck zu bringen, beinahe eine Sozialdisziplinierung. Menschen haben sich strikt nach bestimmten Regeln zu verhalten, was die Gebetszeiten und die Geschlechterrollen angeht. Wenn das zurückgedrängt wird, könnte man sich vorstellen, dass künftig Geschäfte oder Cafés auch während der Gebetszeit offen bleiben. Man könnte selber entscheiden, ob man sitzenbleibt oder in die Moschee geht. Damit würden sich die Tagesabläufe der Bewohner in den Städten ändern. Sie hätten mehr Lebensgestaltungsmöglichkeiten. Das hat schon tiefgreifende Auswirkungen. Das Land würde bunter und pluraler. Ich denke, der Staat wird dafür sorgen, dass der Islam als eine Ordnung angesehen wird, die genau diese Pluralisierung rechtfertigt.
Das Land würde bunter und pluraler.
Was sagen die Kleriker, haben sie nicht etwas gegen eine Liberalisierung?
Die ersten Reaktionen der Kleriker auf die Ankündigung des Kronprinzen erschöpfen sich in ein paar Twitter-Nachrichten. Diese deuten darauf hin, dass unter ihnen ein gewisses Stirnrunzeln vorherrscht. Es ist nicht ganz klar, welche Rolle die Kleriker später im Land spielen sollen. Sie werden sicher einen Macht- und Kontrollverlust hinnehmen müssen. Ich wage es aber zu bezweifeln, dass sie damit zufrieden sein werden. Das wird nicht ohne Gerangel abgehen. Es könnte auch durchaus sein, dass noch einmal eine Welle wahabitischer Opposition gegen Saudi-Arabien stehen wird, wie damals im Jahr 1979.
Salman sagte, er wolle zu einer moderaten, mittleren Interpretation des Islam zurückkehren, als ob Saudi-Arabien diese Interpretation immer vertreten hätte.
Wie viel Macht hat der Kronprinz? Haben da noch andere ein Wörtchen mitzureden, wenn es um eine Modernisierung der Gesellschaft geht?
Er ist rhetorisch geschickt. Er sagte, er wolle zurückkehren zu einer moderaten, mittleren Interpretation des Islam, als ob Saudi-Arabien diese Interpretation immer vertreten hätte, und erst in den letzten Jahren durch den sogenannten islamistischen Terrorismus unter Druck geraten wäre. Tatsächlich ist Mohammed bin Salman aber einer, der eine Rolle spielt wie die junge Garde, die heute in Europa zunehmend die Politik mitgestalten möchte. Er ist 32 Jahre alt und im Verhältnis zu den Königen, die alle über 80 waren, jemand, der mit einer eigenen Vision die politische Kultur gestalten möchte. Er erinnert mich ein wenig an Emmanuel Macron. Er bildet seine eigene Entourage, schafft sich quasi eine eigene Partei, die seine Reformansinnen unterstützt.
Das Gespräch führte Miriam Knecht.