SRF News: Chinas Kommunisten haben am Parteikongress beschlossen, das Gedankengut ihres Anführers als Leitlinie in die Parteiverfassung aufzunehmen. Das klingt nach einem symbolischen Schritt. Ist es mehr?
Martin Aldrovandi: Ja, das ist es auf jeden Fall. Es geht um eine neue Ära des Sozialismus mit chinesischer Prägung unter Xi Jinping. Der Schritt zeigt aber auch, wie wichtig Xi inzwischen geworden ist. Er wird mit Namen in der Parteiverfassung genannt. Damit steht er auf einer Stufe mit Mao Tsetung, zumindest was die Wichtigkeit seines Gedankenguts angeht.
In China beginnt also die Ära von Xi Jinping. Was bedeutet das?
In der neuen Parteiverfassung steht unter anderem auch, die Partei habe die absolute Führungsmacht über das Militär, also die Volksbefreiungsarmee. Die Handelsrouten zwischen Asien und Europa werden auch erwähnt, und dass der Kampf gegen die Korruption weitergehen soll. Das sind alles Punkte, die direkt auf die Politik von Xi Jinping zurückgehen. Daran sieht man, wie wichtig er ist.
Der Raum für kritische Stimmen im Land wird wahrscheinlich noch kleiner.
Beim Parteikongress ist die Rede von einem Sozialismus chinesischer Prägung. Inwiefern steht Xi Jinping noch für sozialistische Werte?
Das ist eine Frage der Definition. Für sozialistische Werte im Sinne des früheren Ostblocks mit der ganzen Planwirtschaft steht er natürlich nicht. Die gibt es in China nicht mehr. Was die Regierungsstruktur und die Kommunistische Partei angeht, gelten diese Werte allerdings schon noch. Das Politbüro, das Zentralkomitee und die Fünfjahrespläne folgen dem Vorbild ehemaliger sozialistischer Länder. Dieses Vorbild gilt gewissermassen auch für die heutige Ideologie – eben für diesen Sozialismus chinesischer Prägung.
Was ändert sich mit der Entscheidung der Kommunistischen Partei, das Gedankengut Xi Jinpings in der Parteiverfassung festzuschreiben?
Auf eine konkrete Antwort müssen wir noch warten, bis am Mittwoch der Ständige Ausschuss des Politbüros, das oberste Organ der Partei, bekanntgegeben wird. Was man aber jetzt schon sagen kann, ist, dass es mit Xi Jinpings Politstil weitergehen wird wie bisher. Er wird sich eher noch verstärken. Das heisst, dass der Raum für kritische Stimmen im Land wahrscheinlich noch kleiner wird.
Es herrscht eine ganz andere Auffassung von Demokratie.
Sie waren in der Grossen Halle des Volkes in Peking, als Xi Jinping quasi zum neuen Mao Tsetung gekrönt wurde. Wie haben Sie den Moment erlebt?
Es ist jedes Mal, wenn ich dort bin, wieder sehr ergreifend, wie viele Leute dort sitzen. Es sind über 2000. Man sitzt sozusagen mit der Politik auf einer Bühne, von der man dann zuschauen kann, wie die Delegierten die Hand heben und einem Vorschlag zustimmen. Man ist dafür, und alle im Saal heben die Hand. Wenn gefragt wird, «wer ist dagegen?», meldet sich niemand. Dann heisst es, «angenommen». Es herrscht eine ganz andere Auffassung von Demokratie.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.