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Prozess in der Türkei «Die Beweise gegen Steudtner sind hanebüchen»

In Istanbul steht der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner vor Gericht. Seine Anklage scheine völlig konstruiert, sagt die Journalistin Luise Sammann.

In der Türkei beginnt heute der Prozess gegen den deutschen Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner und zehn weitere Beschuldigte. Darunter sind auch Vertreter des türkischen Ablegers der Menschenrechtsorganisation Amnesty International. Ihnen wird eine staatsfeindliche Verschwörung vorgeworfen.

Luise Sammann

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Die Journalistin Luise Sammann lebt und arbeitet seit 2009 in der Türkei und berichtet von dort für deutsche Medien über das Land sowie den Nahen Osten. Auch bei Radio SRF ist sie immer wieder zu hören.

SRF News: Was genau wird Peter Steudtner vorgeworfen?

Luise Sammann: Der ganze Fall ist offiziell geheim, deshalb weiss niemand so genau, wie die genauen Vorwürfe lauten. Glaubt man jedoch der türkischen Regierungspresse, geht es um einen ganzen Cocktail an Vorwürfen. So soll Steudtner Mitglied gleich mehrerer Terrororganisationen sein: Zunächst ist dies die Gülen-Bewegung, welche laut der türkischen Regierung hinter dem Putsch vom Juli 2016 gestanden haben soll. Zudem soll er der kurdischen PKK angehören sowie einer linksextremen Organisation.

In Deutschland zeigt man sich – nicht zuletzt von Regierungsseite – schockiert über den Fall Steudtner. Berlin hat mehrmals seine Freilassung gefordert. Wie sind die Reaktionen in der Türkei selber?

Hier zählt vor allem das, was Präsident Erdogan sagt. Er sagte schon kurz nach der Verhaftung Steudtners im Juli, dass die Menschenrechtler, die an dem Seminar teilgenommen hatten, einen neuen Putsch vorbereitet hätten. Deswegen seien sie schuldig. Die Vorverurteilung durch Erdogan widerspricht natürlich jeder Beteuerung in der Türkei, es gebe hier noch ein unabhängiges Justizsystem.

Soweit die Beweise überhaupt bekannt sind, scheinen sie sehr dünn zu sein, um nicht zu sagen hanebüchen.
Menschen mit Türkei-Fahnen.
Legende: Der Westen wolle die Türkei zerstören, bläut Erdogan den Türken ein. Jahrestag des Putschversuchs vom 15. Juli 2016. Reuters Archiv

Gibt es Beweise für die vorgebrachten Vorwürfe gegen Steudtner?

Soweit die Beweise überhaupt bekannt sind, scheinen sie sehr dünn zu sein, um nicht zu sagen hanebüchen. So soll bei Steudtner eine Festplatte zum Thema Datensicherheit gefunden worden sein. Das soll ihn verdächtig machen. Allerdings drehte sich das Seminar ja gerade um das Thema Datensicherheit. Zudem soll bei den Verdächtigen eine Karte gefunden worden sein, die zeige, dass sie die Türkei spalten und aufteilen wollten. Ausserdem stützt sich die Anklage vor allem auf einen anonymen Zeugen, was ebenfalls problematisch ist.

Es drohen 15 Jahre Gefängnis

Der aus Berlin stammende Peter Steudtner war Mitte Juli mit anderen Aktivisten bei einem Seminar auf einer türkischen Insel festgenommen worden. Laut Amnesty International trafen sie sich für eine Fortbildung. Die türkischen Behörden werfen ihnen aber Unterstützung einer bewaffneten Terrororganisation vor.
Steudtner sitzt seit der Festnahme in Untersuchungshaft. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Haft. Die deutsche Regierung hat mehrfach seine Freilassung gefordert. Als Reaktion auf seine Inhaftierung hatte Berlin die Reisehinweise für Touristen in der Türkei verschärft.

Interessiert der Fall neben dem türkischen Präsidenten auch die ganz normalen Türken?

Ja. Alle Fälle inhaftierter Deutscher oder Deutsch-Türken, wie des Journalisten Deniz Yücel oder der deutschen Übersetzerin und Journalistin Mesale Tolu, deren Prozess vergangene Woche begonnen hat, werden vor allem in der regierungsnahen Presse regelrecht ausgeschlachtet. Diese zementieren ein Bild, das immer mehr Erdogan-nahe Türken haben, wonach Deutschland und Europa die Türkei angreifen und zerstören wollten. Auch die USA sollen hinter dem Putschversuch von 2016 stecken, so die hier gängige Meinung. Der Fall Steudtner ist also Teil der Verschwörungstheorie, wonach das westliche Ausland die Türkei zerstören wolle.

Die Ausländer werden von der Türkei in einer Art Geiselhaft gehalten.
Junger Mann mit kurzem Haar und Brille.
Legende: Soll laut Erdogan ein Terrorist sein: Der deutsche Menschenrechtler Peter Steudtner. Keystone Archiv

Bezwecken die türkischen Behörden mit dem harten Vorgehen gegen Steudtner also politische Propaganda?

Das ist auf jeden Fall eine Vermutung, die wir Beobachter hier in der Türkei haben. Anders ist die sehr dünne Anklageschrift, die nur 14 Seiten umfassen soll, kaum zu erklären – bei einer geforderten Strafe von bis zu 15 Jahren Gefängnis. Man muss wohl zwischen den innen- und aussenpolitischen Zielen der türkischen Behörden unterscheiden: Innenpolitisch nützt der Regierung Erdogan alles, was den Eindruck verstärkt, dass das Ausland der Türkei feindlich gesonnen ist. So versucht Erdogan die Bevölkerung hinter sich und seine Politik zu scharen. Aussenpolitisch will man offenbar Stärke demonstrieren, indem man die Ausländer in einer Art Geiselhaft hält. Tatsächlich hat Erdogan angeboten, in der Türkei inhaftierte Ausländer gegen den in seinen Augen Putsch-Verantwortlichen Fetullah Gülen, der sich in den USA befindet, auszutauschen.

Das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland hat sich seit den Verhaftungen von Yücel und Steudtner stark verschlechtert. Bekommen Sie selber das auch zu spüren?

Ja, deutlich. Das bekommt jeder der inzwischen bloss noch wenigen verbliebenen Europäern am Bosporus zu spüren. Früher genossen Deutschland und Deutsche in der Türkei ein grosses Ansehen. Jeder hatte einen Verwandten, der in Deutschland lebte und brachte auch gleich einen Grund vor, weshalb man die Deutschen bewunderte. Das hat sich inzwischen deutlich verändert. Viele Türken reagieren nun negativ auf Deutsche und vor allem deutsche Journalisten. Zum Glück machen die Türken einen Unterschied zwischen Regierung und normalen Menschen. Deshalb sind sie im persönlichen Umgang nach wie vor sehr freundlich, auch wird die türkische Gastfreundschaft weiter hochgehalten. Wenn sie aber herausfinden, dass ich Deutsche bin, kommt rasch die Frage, weshalb Deutschland und Europa denn die Türkei zerstören wollten. Die Menschen haben tatsächlich den Eindruck, der Aggressor komme aus dem Ausland und vor allem Deutschland wolle der Türkei schaden.

Das Gespräch führte Melanie Pfändler.

Der Fall Steudtner in der Chronologie

5. Juli 2017 Türkische Polizeikräfte stürmen einen Menschenrechts-Workshop in einem Hotel auf einer Insel in der Nähe von Istanbul. Bei der Insel handelt es sich um Büyükada. Bei diesem Treffen sind Peter Steudtner und sein schwedischer Kollege Ali Gharavi als Referenten eingeladen. Beim Seminar wurde unter anderem über digitale Sicherheit gesprochen. Die zehn Teilnehmer – darunter auch die Direktorin von Amnesty International in der Türkei, Idil Eser –, werden festgenommen und nach Istanbul gebracht.
8. Juli 2017
Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan rückt die Festgenommenen während einer Pressekonferenz zum Abschluss des G20-Gipfels in Hamburg in die Nähe von Putschisten.
18. Juli 2017
Ein Istanbuler Gericht verhängt gegen die meisten Festgenommenen Untersuchungshaft – darunter auch gegen Steudtner, Gharavi und Eser. Der Grund: Die Beschuldigten sehen sich mit Terrorvorwürfen konfrontiert.
19. Juli 2017
Der deutsche Aussenminister Sigmar Gabriel bricht laut Auswärtigen Amt aufgrund der Verhaftungen der Menschenrechtler in der Türkei seinen Urlaub ab.
20. Juli 2017
Gabriel kündigt als Konsequenz aus der Inhaftierung Steudtners und anderer deutscher Staatsbürger eine Neuausrichtung der Türkei-Politik an: So verschärft das Auswärtige Amt die Reisehinweise für die Türkei. Zudem macht Gabriel die Freilassung der Inhaftierten zur Bedingung für Verhandlungen über die von der Türkei gewünschte Ausweitung der EU-Zollunion.
25. Juli 2017
Präsident Erdogan erhebt Spionagevorwürfe gegen die Bundesregierung und spielt dabei auf den Fall Steudtner an: «Du erlaubst dem Präsidenten und den Ministern der Türkei nicht, in deinem Land zu sprechen», sagt der Präsident. «Aber deine Agenten kommen und tummeln sich hier in Hotels und zerteilen mein Land.»
1. August 2017
Nach zwei Wochen Untersuchungshaft werden Steudtner und Gharavi vom Istanbuler Gefängnis im Stadtteil Maltepe in die rund 80 Kilometer entfernte Haftanstalt in Silivri verlegt. Dort sitzt auch der deutsch-türkische «Welt»-Korrespondent Deniz Yücel wegen Terrorvorwürfen in Untersuchungshaft.
8. Oktober 2017
Elf Menschenrechtler werden der Unterstützung beziehungsweise der Mitgliedschaft in einer bewaffneten Terrororganisation beschuldigt. Darunter ist auch der Amnesty-Vorsitzende in der Türkei, Taner Kilic, gegen den die Türkei bereits im Juni in Izmir Untersuchungshaft verhängt hat.
25. Oktober 2017
In Istanbul beginnt der Prozess gegen Steudtner, seinen schwedischen Kollegen Ali Gharavi und neun Mitangeklagte.

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