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International Scharia nicht eigentliches Problem der Verfassung

Mit dem ägyptischen Verfassungsentwurf taucht das Schreckgespenst der Scharia in den Schweizer Medien auf. Das ägyptische Recht basierte allerdings schon vor der Revolution auf dem islamischen Recht. Darin sind sich zwei Experten einig. Streitpunkte sind ganz andere.

Der in der Schweiz lebende ägyptische Journalist Tamer Aboalenin ist aufgebracht: «Es nervt mich, wie in der Schweiz über den Verfassungsentwurf berichtet wird.» Er werde so dargestellt, als ob nur Fundamentalisten am Werk seien, sagt der Ägypter zu «SF Online», der schon über 25 Jahre über die Schweiz als Korrespondent für arabische Medien schreibt.

Im über Nacht vom Komitee verabschiedeten Verfassungsentwurf sieht er nur Vorteile: Artikel 2 über die Scharia bleibe wie gehabt, es gebe mehr Rechte für die Ägypter und Stabilität für die Gesellschaft – Beschränkung der Macht des Präsidenten, dafür mehr für das Parlament. «Was will man noch mehr?», fragt er.

Islamwissenschaftler Reinhard Schulze hätte einige Wünsche offen. Denn viele Punkte, die sich auf Anhieb vernünftig anhören, kritisiert er im Gespräch mit «SF Online». So ist es zum Beispiel Fakt, dass die Scharia – also das islamische Recht – bereits seit 1971 die Hauptquelle für die Gesetzgebung ist (Art. 2).

«Die Anhänger der Ultrareligiösen waren mit Art. 2 nicht einverstanden und wollten die islamische Scharia selbst als das Recht definiert sehen. Dies wurde abgeblockt, deshalb entstand ein merkwürdiger Zusatz (Art. 4). Nämlich, dass die Al-Aszhar-Universität die Rechtssetzung kontrolliert». Dies ist die grösste islamische Universität Ägyptens und wird somit zur staatlichen Universität und verfassungsrechtlich geschützt.

Frauen zurück an den Herd

Zwei weitere Aspekte sind aber viel umstrittener: die Rolle der Religion und der Frau. Die Familie etwa wird in Art. 9 als Hauptkern der ägyptischen Gesellschaft erwähnt. Aboalenin hebt dazu das Positive hervor: «Der Staat garantiert bezahlten Mutterschaftsurlaub von bis zu zwei Jahren. Davon kann die Schweiz nur träumen.» Der Staat versichere ausserdem eine volle Unterstützung für alleinerziehende Frauen, Witwen und geschiedene Frauen. Zudem garantiere die Verfassung der Frau, sich beruflich zu verwirklichen, erklärt Aboalenin. 

Schulze bestätigt diesen Punkt. Er hält aber entgegen, dass im Konfliktfall die Familie Vorrang hätte. «Der Punkt ist, dass das Familienbild in der Verfassung verankert wird – die Familie als moralische Instanz. Dies rückt die Frau automatisch an den Herd», so der Religionswissenschaftler.

Video
Islamwissenschaftler Schulze über heikle Punkte der Verfassung
Aus Tagesschau vom 30.11.2012.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 14 Sekunden.

Auch über Paragraphe der Religionszugehörigkeit gehen die Meinungen der beiden Experten auseinander. In Art. 3. ist verankert: Juden und Christen können ihre  Religion ohne staatliche Einmischung ausüben. «Über diesen positiven Aspekt spricht in den Medien niemand», ärgert sich Aboalenin.

Schulze bewertet diesen Artikel negativ, denn er schliesse alle anderen Religionsgemeinschaften explizit aus. Und zudem alle anderen religiösen Traditionen, denn Art. 221 der neuen Verfassung verankert zudem die sunnitische Rechtsprechung und die Sunna als Grundlage. «Es ist unklar, was zum Beispiel mit gemischten Ehen passiert. Der Paragraph verunmöglicht, dass die Menschen unabhängig ihrer Religion einem gleichen Zivilrecht unterstellt sind», so Schulze.

Verfassung der Wertkonservativen

Viele Oppositionelle werfen Mohamed Mursi vor, nicht Präsident aller, sondern der Moslembrüder zu sein. Schulze bestätigt: Die Verfassung basiere nicht auf der Idee der Staatsbürgerschaft, sondern auf der Zugehörigkeit der Religion. Dieses Grundmuster wird laut Schulze sicherlich nicht nur von den Islamisten begrüsst. «Alle wertkonservativen Gemeinschaften, auch koptische, werten dies bestimmt als positiv».  Sein Hauptkritikpunkt ist, dass die Verfassung nicht religionsneutral sei.

In einem Punkt spiegle sich das demokratische Bewusstsein des Verfassungskomitees und darin ist sich Schulze mit dem ägyptischen Journalisten Tamer Aboalenin einig: Die Exekutivgewalt des Präsidenten wird mit der neuen Verfassung eingeschränkt. Sie ist auf vier Jahre und höchstens zwei Amtszeiten beschränkt.

Über die Verfassung können die Ägypter bald selber befinden. Sobald sie Präsident Mursi abgesegnet hat, kann die Referendumswahl wenige Wochen danach stattfinden. Und dieses wird beim ägyptischen Volk durchkommen. Daran hegt nicht nur Aboalenin keine Zweifel.

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