Faycal Métaoui analysiert die politische Entwicklung Algeriens seit Jahren in der liberalen frankophonen Tageszeitung «El Watan» und im Internet. Seit über drei Monaten gehen wöchentlich Millionen von Menschen auf die Strassen und fordern den Abgang des Regimes.
«Es ist nicht mehr der gleiche Druck, wie unter Bouteflika. Damals war Kritik am Präsidenten verboten, vor allem in den Medien, die der Regierung nahestanden», so Métaoui. Selbst Blogger seien ins Gefängnis gesteckt worden, weil sie Bouteflika kritisiert hätten. Diese Blogger sitzen noch immer im Gefängnis.
Gewerkschaften mit mehr Freiheiten
Die algerische Gesellschaft aber befindet sich im Aufbruch. Das zeigt sich deutlich bei den regierungsunabhängigen Gewerkschaften, die der staatlichen Gewerkschaft Konkurrenz machen.
Für die Organisation eigener Sektionen brauchten diese autonomen Gewerkschaften früher eine Bewilligung der Regierung. Was die staatliche Bürokratie oft jahrelang verschleppte. Auch bei grösseren Versammlungen mussten Gewerkschaften bei den Behörden um Genehmigung bitten.
Seit dem Rücktritt Bouteflikas habe der Druck der Behörden nachgelassen, sagt Meriane Meziane, Koordinator der Lehrergewerkschaft Snapest: «Es macht den Anschein, dass die Freiheiten zugenommen haben.»
Seit Anfang April habe die Regierung mehrere neue Gewerkschaften zugelassen und bürokratische Verfahren vereinfacht. Heute könnten sich auch autonome Gewerkschaften frei versammeln.
Demonstrationen werden in den Medien totgeschwiegen
Es gibt aber auch Anzeichen für eine Verschlechterung des politischen Klimas. Beispielsweise in Algier, wo für die Freitagsproteste jeweils der Ausnahmezustand ausgerufen wird. Im Monat Mai seien Hunderte von Demonstranten verhaftet und dann stundenlang auf den Polizeiposten festgehalten worden, berichten algerische Medien.
Die Regierung schränke auch die Berichterstattung über die Proteste wieder ein, sagt Métaoui: «Die privaten Fernsehsender haben zu Beginn die Freitagsdemonstrationen live übertragen. Das dürfen sie heute nicht mehr.» Auch staatliche Sender und Zeitungen würden nur noch eingeschränkt über die Ereignisse berichten.
Bei der Presse setzt die Regierung auf eine Methode, die sie bereits während der Ära Bouteflika angewendet hatte. «Zeitungen, die regierungskritisch sind, erhalten keine amtlichen Anzeigen. Damit verlieren sie eine wichtige Einnahmequelle.» Das sei bei «El Watan» und anderen kritischen Zeitungen schon lange so.
Neuerdings treffe es auch Zeitungen aus dem Imperium des früheren Unternehmerpräsidenten Ali Haddad, der mit Bouteflika befreundet war und nun im Gefängnis sitzt. «Damit setzt man die Zeitungen unter Druck.»
Quo vadis Algerien?
Métaoui und seine Zeitung haben das Regime von Präsident Bouteflika bereits offen kritisiert, als dieser an der Macht war. Für Medien, Gewerkschaften, gesellschaftliche Organisationen und die Opposition gab es kaum Spielraum. Aber: «Algerien befindet sich in einem Wandel, der Zeit braucht, weil wir auch alte Reflexe ablegen müssen, die uns schwer belastet haben.»
So gesehen wäre es ein gutes Zeichen, dass die Übergangsregierung die auf anfangs Juli geplante Präsidentenwahl verschoben hat. Von einer Übergangszeit will sie aber weiterhin nichts wissen. Sie setzt weiterhin auf einer Wahl unter Regie der Verwaltung aus der Ära Bouteflika. Dies wäre dann ein alter Reflex.