«Eine Heimat, ein Staat, ein Führer»: In Deutschland kennt man solche Parolen nur noch aus dem Geschichtsunterricht. In Spanien sind sie vielen Menschen noch immer präsent: Sie sind die Insignien einer Diktatur, in der die ältere Generation ihr halbes Leben verbrachte.
In Madrid herrschte bis 1975 das faschistische Regime von Francisco Franco. Der Weggefährte und Bewunderer von Adolf Hitler und Benito Mussolini galt vielen als Relikt eines vermeintlich überwundenen Totalitarismus.
In Spanien selbst führte Franco fort, wofür auch seine zweifelhaften Vorbilder standen: Imperiale Grossmachtphantasien, radikaler Nationalismus und Kampf gegen die «bolschewistischen Horden» aus dem Osten.
Am 20. November 1975 verstarb Spaniens langjähriger Diktator. Es war das Ende einer brutalen Willkürherrschaft, die schätzungsweise 100'000 Spaniern das Leben kostete; viele mehr litten unter der gnadenlosen Repression des Regimes.
Francos Tod war der Anfang eines demokratischen Übergangs, der ohne echte Aufarbeitung der Verbrechen des faschistischen Regimes stattfand. Noch heute suchen viele Menschen nach ihren Angehörigen, die irgendwo in Massengräbern verscharrt wurden. Und noch immer liegen Francos sterbliche Überreste im Valle de los Caidos.
Das «Tal der Gefallenen» ist ein gewaltiges Mausoleum, an dem neben dem Diktator auch abertausende seiner Opfer liegen. Der Militärdiktator liess die Anlage einst von Zwangsarbeitern für die Gefallenen des spanischen Bürgerkriegs bauen – und zur Verherrlichung der Falange, der spanischen faschistischen Bewegung.
Nun hat der neue sozialistische Regierungschef Pedro Sánchez angekündigt, den Leichnam des früheren Diktators zu exhumieren. Die Regierung will aus dem Mausoleum einen «Ort der Versöhnung» machen.
Aus dem Valle de los Caidos eine Erinnerungsstätte für beide Seiten zu machen, dürfte aber schwer werden, sagt Spanien-Kenner Georg Pichler: «Das Kreuz dominiert die Landschaft. Schon rein ästhetisch ist es ein Hinweis darauf, wer es zu welchem Zweck geschaffen hat.» Spaniens Premier wolle aber etwas tun, was man von schon vor vierzig Jahren hätte machen sollen, so Pichler: Franco aus der öffentlichen Debatte entfernen.
Gegen das Vergessen
Neu sind die Pläne nicht. Schon die sozialistische Regierung um José Zapatero, die von 2004 bis 2011 amtete, wollte Francos sterbliche Überreste exhumieren lassen. Sie habe es letztendlich aber nicht gewagt, wirklich durchgreifende Massnahmen zur Aufarbeitung der faschistischen Diktatur umzusetzen, sagt Pichler.
Erst seit der Jahrtausendwende ist eine wirkliche Bewegung im Land entstanden. Die Nachgeborenen fordern, dass die Verbrechen von damals aufgearbeitet werden. Allem voran soll das Schicksal der vermissten Opfer aufgeklärt werden.
Lange Jahre verhinderten dies konservative Kräfte in Medien und Politik, berichtet Pichler: «Ein Teil der Bevölkerung will auch, dass man die Vergangenheit ruhen lässt.»
Der spanische Sonderfall
Während Deutschland die Schrecken des Nationalsozialismus akribisch aufarbeitete, ist eine vergleichbare Entwicklung in Spanien ausgeblieben. Auch, weil das Regime der Bevölkerung jahrzehntelang unwidersprochen seine Geschichte erzählen konnte.
«Das Regime hatte sehr viel Zeit, seine Sicht auf den spanischen Bürgerkrieg durchzusetzen und die Jahre davor», sagt Pichler. Es gebe mindestens zwei Generationen, die francistisch indoktriniert worden seien: «Für sie ist es sehr schwer, plötzlich einen neuen Standpunkt einzunehmen.»
Schliesslich gebe es auch einen «soziologischen Francismus» in Spanien. Der Begriff kam in den 1980ern und 1990ern auf, schildert Pichler: «Er beschreibt Demokraten, die in der francistischen Tradition aufgewachsen sind und ihre Vergangenheit nicht einfach umwerfen wollen.» Pichler warnt aber davor, diese Menschen mit Francisten oder gar Faschisten gleichzusetzen.
Politisches Kalkül der Sozialisten
Doch warum sollte es gerade der Minderheitsregierung von Pedro Sánchez gelingen, etwas an dieser Geschichtsvergessenheit zu ändern? Zunächst, sagt Pichler, habe die spanische Gedächtnisbewegung in den letzten Jahren deutlich an Rückenwind gewonnen.
«Sie wurde auch internationalisiert, nachdem eine argentinische Richterin tat, was die spanischen Richter nicht taten: Sie stellte die noch lebenden Folterer des Franco-Regimes vor Gericht», berichtet Pichler.
Die im Parlament schwach abgestützte Regierung Sánchez handle aber auch aus machtpolitischen Kalkül, sagt Pichler: «Sie fährt einen wirtschaftlich eher rechten Kurs und möchte nun auch auf der linken Seite punkten.» Schliesslich stehen nach dem Sturz der Regierung Rajoy bald die nächsten Wahlen an.