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Türkische Offensive in Syrien «Erdogan hat zwei Ziele mit diesem Krieg»

Am Sonntag gab US-Präsident Donald Trump bekannt, dass er seine Truppen aus dem Norden Syriens abziehe. Heute Nachmittag, nur knapp drei Tage später, hat die Türkei mit ihrer Militäroffensive begonnen. Im Visier hat sie die Kurdenmiliz YPG, die bis jetzt mit den USA gegen den IS gekämpft hatte. Journalist Thomas Seibert war bis gestern im türkisch-syrischen Grenzgebiet. Er sagt, Präsident Recep Tayip Erdogan verfolge damit innenpolitische Ziele.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

SRF News: Was weiss man zur Stunde über die Offensive in Nordsyrien?

Thomas Seibert: Es gibt mehrere Luft- und Artillerieangriffe der türkischen Armee auf syrisches Gebiet. Die Kurdenmiliz YPG wird von der Türkei militärisch sehr unter Druck gesetzt. Die Rede ist von mindestens drei Punkten, an denen die Türkei in die Offensive gegangen ist. Dabei handelt es sich um Städte, die sich fast bis zur irakischen Grenze hinziehen.

Was ist das Ziel der Operation?

Erdogan hat zwei Ziele mit diesem Krieg. Das eine ist: Er will die Kurdenmiliz YPG aus dem Grenzgebiet vertreiben. Die YPG ist ein Ableger der kurdischen Terrororganisation PKK. Die Türkei empfindet die Anwesenheit dieser Miliz an der Grenze als Bedrohung ihrer nationalen Sicherheit. Das zweite Ziel ist: Die Türkei möchte im Nordosten Syriens eine sogenannte Sicherheitszone einrichten, in die Flüchtlinge aus der Türkei nach Syrien zurückgebracht werden können. Die Rede ist hier von bis zu drei Millionen Menschen.

Erdogan steht unter Druck, weil der Unmut in der türkischen Bevölkerung über die syrischen Flüchtlinge wächst.

Dieses Projekt wird von vielen Experten angezweifelt, die sich mit solchen Fragen auskennen. Das Ziel ist vor allem innenpolitisch motiviert. Erdogan steht unter Druck, weil der Unmut in der türkischen Bevölkerung über die syrischen Flüchtlinge im Land weiter wächst. Er möchte seinen Wählern zeigen, dass er etwas tut, um sie wieder nach Syrien zurückzubringen.

Eine solche Umsiedlungsaktion würde auch ethnische Fragen aufwerfen. Kündigt sich damit schon die nächste Krise an in dieser Region?

Das wird auf jeden Fall eine grössere Krise werden, wenn es denn tatsächlich so weit kommt, dass Syrer massenweise in dieses Gebiet zurückgebracht werden. Aber das ist nicht die einzige Schwierigkeit, die die Türkei hier auslösen könnte. Ein anderes Problem ist die Befürchtung, dass der Islamische Staat wiedererstarken könnte. Die Kurdenmiliz YPG war bisher praktisch der Subunternehmer der Amerikaner im Kampf gegen den IS.

Die Kurdenmiliz YPG war bisher praktisch der Subunternehmer der Amerikaner im Kampf gegen den IS.

Die YPG-Kämpfer hielten den Islamischen Staat bisher in Schach. Doch jetzt ziehen sie ihre Truppen natürlich ab, um gegen die Türkei zu kämpfen. Das heisst, der Islamische Staat könnte nun die Gelegenheit erhalten, sich wieder mehr zu entfalten in der Region – mit allen Problemen, die das mit sich bringen könnte: neue Geländegewinne für die Dschihadisten und möglicherweise auch eine grössere Attraktivität für Extremisten im Ausland.

Es gibt auch Tausende Flüchtlinge in dem Gebiet. Was passiert mit ihnen?

Die UNO verlangt von der Türkei Zugang zu allen Gebieten, die in Nordsyrien besetzt werden sollen. Es ist schon jetzt so, dass 1.7 Millionen Menschen in diesem Gebiet leben, und von denen ist rund jeder Zweite schon jetzt auf Hilfslieferungen der UNO angewiesen. Die Lage ist also jetzt schon relativ schwierig. Wenn nun auch noch ein Krieg ausbricht, dann befürchtet die UNO, dass sich die humanitäre Situation weiter verschärft. Das könnte insbesondere deswegen schwierig werden, weil der Winter bevorsteht. Die Unterbringung vieler Flüchtlinge wird dann zu einem eigenen Problem.

Das Gespräch führte Beat Soltermann.

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