Kurz vor dem siebten Jahrestag der Revolution vom Sonntag ist Tunesien erneut von massiven Strassenprotesten betroffen. Die Nacht auf Donnerstag war bereits die dritte Nacht in Folge mit Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften und hunderten von Verhaftungen.
SRF News: Auslöser des Arabischen Frühlings vor sieben Jahren war ein Gemüsehändler, der sich aus Protest angezündet hatte. Was ist es heute?
Das Thema hinter diesen Protesten ist die wirtschaftliche Misere und ihre Auswirkung auf den Alltag vieler Menschen, für die das Leben immer teurer wird. Die Teuerung in Tunesien ist im Moment höher als sechs Prozent. Dazu kommen neue Steuern, weil die Regierung auf Druck des Internationalen Währungsfonds das Staatsdefizit senken und darum auch Subventionen streichen muss. Diese Preiserhöhungen treffen vor allem die armen Leute und den Mittelstand, die den grössten Teil ihres Einkommens für Lebensmittel aufwenden müssen und dabei die hohe Teuerung besonders deutlich spüren.
Was sind das für Menschen, die jetzt auf die Strasse gehen?
Es sind vor allem jüngere Leute. Ausgebrochen sind die Proteste in den Vorstädten von Tunis, aber auch in den grösseren Städten des Südens, in Kasserine, Gafsa oder Sidi Bouzid. Das sind die gleichen Orte, wo sich vor sieben Jahren auch die Proteste gegen Diktator Ben Ali entzündet hatte. Alles Orte, wo sich die sozialen Probleme besonders stark konzentrieren. Es sind Städte mit einer jungen Bevölkerung und überdurchschnittlich hoher Arbeitslosigkeit.
Wie sieht der Alltag dieser Jungen aus?
Die Arbeitslosigkeit bei den Jungen ist mit Sicherheit das grösste Problem. Viele von ihnen leben von Gelegenheitsarbeit oder von der Unterstützung durch die Familie. Eine Chance auf eine feste Arbeit haben sie kaum. Selbst wenn sie eine Schulausbildung abgeschlossen und eine höhere Schule besucht haben. Aber selbst dieser Abschluss hilft ihnen nicht weiter. Ihre Perspektiven auf eine angemessene Arbeit sind schlecht.
Ein grosser Teil der privaten Wirtschaft spielt sich in der Schattenwirtschaft ab, wo es keine guten Stellen gibt.
Chancen auf eine Stelle gibt es praktisch nur beim Staat. Das war schon bisher so. Aber der Staat muss sparen und darum eher Stellen streichen, als dass er neue schaffen kann. Der private Sektor dagegen ist in Tunesien eher schlecht entwickelt. Ein grosser Teil der privaten Wirtschaft spielt sich in der Schattenwirtschaft ab, wo es keine guten Stellen gibt.
Was ist im Vorzeigeland nach dem Arabischen Frühling und dem Sturz von Langzeitdiktator Ben Ali von der Aufbruchstimmung noch übrig?
Geblieben ist die Redefreiheit: Die Häufung von Protesten seither ist ein Zeichen dafür. Sie werden von der Polizei auch nicht mehr mit derselben Brutalität unterdrückt. Auch wenn in tunesischen Gefängnissen vermutlich noch immer Häftlinge misshandelt und gefoltert werden. Aber nicht mehr mit der gleichen Systematik wie früher.
Das Gespräch führte Brigitte Kramer.