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International «Unter Putin wird eindeutig zurückbuchstabiert»

Russlands Wirtschaft stagniert. Wegen der Modernisierungen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht in Angriff genommen wurden, wegen des tiefen Ölpreises – und nicht zuletzt auch wegen der westlichen Sanktionen. SRF-Korrespondent Peter Gysling über die Stimmung im Land.

SRF News: Schlägt sich die aktuelle Lage auf die russische Bevölkerung nieder?

Peter Gysling

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Peter Gysling arbeitet seit 1980 als Journalist für SRF. Während des Mauerfalls war er Korrespondent in Deutschland. Von 1990 bis 2004 und erneut seit 2008 ist er Korrespondent in Moskau.

Peter Gysling: Ja, das ist ganz stark spürbar. Vor allem in den städtischen Zentren wie Moskau und St. Petersburg. Dort hat sich in den letzten Jahren eine Opposition breitgemacht. 2008, 2009 und 2010, als noch Dmitri Medwedew Präsident war, herrschte Zuversicht. Man glaubte, dass sich Russland auf den Weg zu einer Modernisierung begeben werde. Es gab auch keine Demonstrationen gegen Medwedew. Erst mit der Ankündigung von Wladimir Putin, dass er wieder Präsident werden wolle, kamen die Slogans «für ein Russland ohne Putin» auf. In den folgenden Monaten – auch angesichts der Krim-Annexion und der kriegerischen Ereignisse in der Ostukraine – ist die Opposition nun immer stärker unterdrückt worden.

Inwiefern haben die Ereignisse auf der Krim und in der Ostukraine die Situation zusätzlich verschärft?

Es hat eine massive Staatspropaganda eingesetzt. Die meisten Menschen glauben dieser Propaganda. Sie haben den Eindruck, mit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim sei eine «historische Gerechtigkeit» wiederhergestellt worden. Der einzige Nein-Sager im russischen Parlament wird gerichtlich verfolgt. Die wenigsten wissen, wieviel diese Annexion den Staatshaushalt kostet. Es sind etwa 125 Milliarden Rubel im Jahr, umgerechnet also zwei Milliarden Franken jährlich – eine beträchtliche Summe.

Das heisst, es gibt eine Propaganda-Maschine, aber keine Gegenstimmen?

Es gibt das Internet. Wer sich informieren will, kann das dort machen. Aber wer dann seinen Protest ankündigt, wird wirklich bekämpft. Es ist nicht einfach, seine Meinung in der breiten Öffentlichkeit frei zu äussern. Das Klima hat sich klar verschärft – vor allem für Leute, die der Staatsführung kritisch gegenüber stehen. Sie gelten heute als Vaterlandsverräter und werden entsprechend geächtet. Das zeigt sich auch darin, dass die Staatsmacht eingreift und zum Teil auch Strassenmusiker verhaftet. Sie hätten für «unerlaubte Versammlungen» gesorgt.

Audio
«Es ist nicht einfach, in Russland seine Meinung zu äussern»
aus Zwischen den Schlagzeilen vom 19.08.2015.
abspielen. Laufzeit 13 Minuten 46 Sekunden.

Es geht also um Behörden, die sich durchsetzen – aber spielt nicht auch die wirtschaftliche Macht eine Rolle?

Natürlich. Es geht Russland eindeutig viel schlechter als beispielsweise noch vor zwei, drei Jahren. Das hat einerseits mit der Politik Putins zu tun. Er widersetzt sich letztlich einer industriellen Modernisierung. Andererseits hat es auch mit dem tieferen Ölpreis, der Krim-Annexion, dem Krieg in der Ostukraine und mit den Sanktionen des Westens zu tun. Die Staatsbehörden versuchen nun, alles unter ihre Kontrolle zu bringen. So haben sie in den letzten Monaten in vielen grossen Städten die Märkte aufgelöst. Märkte, auf denen selbständige Bauern und Händler ihre Waren angeboten haben. Damit wollen sie die Marktposition der grossen, russischen Supermarktketten, die sie selbst gut kontrollieren können, stärken.

Wie geht die Bevölkerung damit um?

Mit Ohnmacht. Betroffen von diesen Schliessungen sind natürlich vor allem Geschäftsleute, die kleine und mittlere Betriebe haben. In den letzten paar Monaten haben sehr viele – nicht zehntausende, sondern hunderttausende – solche Betriebe zumachen müssen. Wegen der Behörden, aber auch wegen der Justizwillkür.

Wie steht es denn momentan um die russische Wirtschaftsleistung?

Am Wachsen ist eigentlich nur der militärisch-industrielle Bereich. Ansonsten herrscht eine Stagnation oder sogar ein schwacher Rückgang. Dies eben weil viele kleine und mittlere Unternehmen geschlossen haben, aber auch weil ausländische Investoren weniger präsent sind in Russland. Im internationalen Vergleich ist die Arbeitsleistung hier sehr tief. In Russland bringt eine Arbeitsstunde im Schnitt etwa 26 US-Dollar ein. In Griechenland sind es 36, und in der Gesamt-EU sogar 50 Dollar. Wenn man sich beispielsweise auf einer hiesigen Baustelle umsieht, so sieht man oft an die 20 Arbeiter. Von denen sitzen 15 herum und rauchen, drei arbeiten wirklich und zwei weitere Männer beobachten die ganze Szene. Sie sind die Chefs.

Die Privatisierungen sind nach sehr fragwürdigen Methoden durchgeführt worden.

Und wer leidet am meisten unter dieser Ineffizienz?

Insgesamt natürlich die russische Volkswirtschaft. Aber am ehesten spüren es die Rentnerinnen und Rentner. Es hapert auch mit der angeblich kostenlosen Gesundheitsversorgung. Und auf viele Privilegien muss neuerdings verzichtet werden. So konnten ältere Leute, die in Moskaus Vororten wohnen, die Metro früher gratis benutzen. Doch das wurde im Rahmen einer Sparmassnahme abgeschafft. Das ärgert viele. Sie machen aber bloss die Faust im Sack.

Was würden Sie sagen, wohin steuert Russland?

Ich war ja schon einmal vor 25 Jahren als Korrespondent in Moskau und habe den Zerfall der Sowjetunion erlebt. Damals hat man gesagt, diese schwierige Wende würden die Bürger vielleicht innerhalb einer oder anderthalb Generationen schaffen. Jetzt sind 25 Jahre verstrichen. Es gab eine Zeit lang deutlich mehr Freiheit. Aber auch neue Probleme. Die Privatisierungen sind damals nach sehr fragwürdigen Methoden durchgeführt worden. Doch jetzt, unter Putin, wird meiner Ansicht nach – was Demokratie, Meinungsäusserungsfreiheit und unternehmerische Eigeninitiative angeht – eindeutig zurückbuchstabiert. Vielleicht ändert sich das in ein, zwei Generationen wieder. Mag sein. Aber ich denke, man sollte sich auch die andere, die pessimistische Option offen halten, wonach sich in den nächsten paar Jahrzehnten in Russland vielleicht gar nichts zum Besseren wenden wird.

Das Gespräch führte Barbara Peter.

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