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Libyen: Auch 2015 Drehscheibe des Schlepperwesens
Aus 10 vor 10 vom 21.04.2015.
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International «Viele Flüchtlinge werden zu Handlangern der Schlepper»

Admer Bascheir* kam übers Mittelmeer nach Europa und lebt als anerkannter Flüchtling bei Bern. Am Schlepperwesen seien viele Flüchtlinge als Handlanger selbst beteiligt, sagt er. Und auch die europäische Unterscheidung zwischen «echten» Flüchtlingen und «Wirtschaftsmigranten» sei realitätsfern.

Admer Bascheir lebt seit zehn Jahren in der Schweiz, seit 2014 mit dem Status als politischer Flüchtling. Der 42-jährige Afrikaner floh aus seiner Heimat durch die Sahara nach Libyen, wo er sich zwei Jahre lang mit Gelegenheitsjobs durchschlug, um die 1500 Dollar für die Überfahrt nach Europa bezahlen zu können. Aus Angst vor Repressionen durch Landsleute will er weder seine exakte Herkunft noch seinen tatsächlichen Namen nennen.

SRF News: Admer Bascheir, fast täglich gibt es derzeit Meldungen über ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer. Was denken Sie, wenn Sie das hören?

Admer Bascheir: Es macht mich traurig. Es erinnert mich an meine eigene Flucht. Wir waren damals drei Tage unterwegs. Auf dem rund sechs Meter langen Boot waren zwischen 40 und 50 Menschen zusammengepfercht. Platz, sich hinzulegen, gab es keinen. Um nicht zu schwer zu sein, durften wir nur gerade die Kleider mitnehmen, die wir am Leibe trugen.

Zusätzlich waren die Bretter entfernt worden, die den flachen Boden des Bootes gebildet hatten. So hatten wir die Füsse ständig im Wasser. Die Fladenbrote, die wir dabei hatten, waren nass und ungeniessbar geworden. Wir hatten also kaum etwas zu essen. Aber wir hatten Glück, das Meer blieb verhältnismässig ruhig und wir erreichten Italien. Wo genau, weiss ich bis heute nicht.

In der europäischen Debatte sind derzeit die Schlepperbanden und ihre mafiösen Strukturen, die es zu zerschlagen gilt, ein zentrales Thema. Wie sind Sie an die Schlepper gekommen?

Das war überhaupt kein Problem. Es gibt so viele Flüchtlinge in Libyen, die nach Europa wollen. Da erfährt man ziemlich schnell, wer sich um so etwas kümmert.

Was sind das für Leute?

Von den organisierten kriminellen Strukturen habe ich selbst nichts mitbekommen. Nachdem ich die 1500 Dollar für die Überfahrt mit Gartenarbeiten und einem Job als Karosseriespengler zusammengebracht hatte, wurde ich von einem «Chef» in einer Wohnung untergebracht. Das war zwar eine harte Zeit, da es nur diese kleinen «La vache qui rit»-Käschen und Sardinen zu essen gab. Monatelang mussten wir auf die Abfahrt warten. Aber der «Chef» war nett zu uns. Musste er ja auch, er konnte schliesslich keinen Aufruhr gebrauchen. Aber er war ein guter Mensch. Genauso später der Bootsführer, der hat manchmal sogar mit uns gesungen.

Dennoch sind es die Schlepper und ihre Hintermänner, die die Flüchtlinge auf die lebensgefährliche Fahrt schicken und damit zumindest eine grosse Mitverantwortung für die tausenden Todesopfer tragen.

Natürlich, aber diese strikte Unterscheidung wird der Sache nicht wirklich gerecht. Viele Flüchtlinge sind gezwungenermassen ein aktiver Teil des Schlepperwesens. Gerade jene, die das Geld für die Überfahrt nicht aufbringen können, betätigen sich oft als eine Art Anwerber für die Schlepper, um sich die Überfahrt zu verdienen. Bevor ich nach Italien übersetzen konnte, musste auch ich dem «Chef» mehrmals weitere «Kunden» bringen. Er hätte mich für diese Arbeit sogar gerne weiter behalten.

Betreiben die Schlepper ihr Geschäft im Verborgenen oder ganz offen?

Grundsätzlich läuft das Ganze schon heimlich ab, zumindest zu meiner Zeit war das so. Wie gesagt, mussten wir uns vor der Abfahrt in einer Wohnung versteckt halten. Und auch als wir mit einem Pickup zum Boot gebracht wurden, versteckte man uns unter Wolldecken. Doch schon damals wusste die Polizei genau Bescheid. Die Polizisten halfen sogar dabei, die Flüchtlinge auf den Booten einzupferchen, indem sie sie mit ihren Gewehrkolben auf die Schiffe stiessen. Sie kriegten von den Schleppern auch Geld dafür. Das ist heute, wo die Lage in Libyen noch viel chaotischer ist, bestimmt nicht anders.

Am Donnerstag beraten die EU-Staats- und Regierungschefs an einem Sondergipfel über Massnahmen gegen das Sterben im Mittelmeer. Derzeit rechnet Italien mit bis zu einer Million Flüchtlinge, die in Libyen auf ihre Überfahrt nach Europa warten. Könnte eine strikte Abriegelung der libyschen Küste durch eine europäische Mission Menschenleben retten?

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Das glaube ich nicht. Zumindest würde es kaum einen der Flüchtlinge in Libyen davon abhalten, die Überfahrt trotzdem zu versuchen. Die Situation da ist das Schlimmste, was Sie sich vorstellen können. Nirgends wurden wir Flüchtlinge aggressiver behandelt. Wir durften zum Beispiel weder eine Frau ansprechen noch sonst irgendwie auffallen.

Manchmal reichte es bereits, der Strasse entlang zu gehen, um mit Steinen beworfen zu werden. Das war kein Leben. Deshalb haben auch die vielen Toten auf dem Mittelmeer überhaupt keine abschreckende Wirkung. Das Risiko war uns bei unserer Abfahrt schlicht egal. Eine Umkehr hätte für mich den sicheren Tod bedeutet. Die Überfahrt bot zumindest die Chance auf ein Überleben.

Was halten Sie von Flüchtlingsaufnahmezentren, wo allenfalls bereits in Nordafrika Asylgesuche gestellt werden könnten?

Gar nichts. Das wären Gefängnisse. Wir sind aus unserer Heimat geflohen, weil wir frei sein wollten. Da hätte ich das Risiko einer Überfahrt so einem Lager vorgezogen. Hinzu kommt, dass die politische Lage insbesondere in Libyen derzeit derart katastrophal ist, dass das auch praktisch kaum umzusetzen wäre.

Die Einrichtung eines sicheren Weges nach Europa, wie ihn UNO-Flüchtlingskommissar António Guterres fordert, wäre eine weitere Möglichkeit. Diese stösst in der europäischen Politik jedoch wegen der befürchteten Sogwirkung auf grosse Skepsis.

Ich verstehe die Europäer, doch es ist kurzfristig der einzige Weg, Menschenleben zu retten. Langfristig muss endlich etwas geschehen, dass die Lebensbedingungen in Afrika so sind, dass eine Flucht nicht mehr als einziger Ausweg erscheint. Europa muss seine Wirtschaftspolitik überdenken und so gestalten, dass auch Afrika eine Chance hat. Bis so etwas greift, werden die Menschen aber weiter die Flucht versuchen, unabhängig vom Risiko. Sollen dabei nicht viele von ihnen sterben, sind sichere Wege nach Europa die einzige Lösung.

Europas Politik fürchtet insbesondere die Sogwirkung auf so genannte «Armutsflüchtlinge». Diese haben im Gegensatz zu an Leib und Leben bedrohten Flüchtlingen, z.B. aus Kriegsgebieten, gar keine Chance auf Asyl.

Dieser Argumentation beruht meiner Ansicht nach auf einer Fehleinschätzung. Ich musste mein Land verlassen, weil ich mich nicht an einem verbrecherischen Krieg beteiligen wollte. Ich bin desertiert und habe im Versteckten gelebt. Damit war aber auch jede Chance dahin, mir und meiner Familie innerhalb des korrupten Systems einen bescheidenen Lebensstandard zu erarbeiten. Es gibt nicht einfach Kriegs- und Armutsflüchtlinge, beides hängt zusammen. Nur wirtschaftliche Perspektiven und politische Stabilität ohne Gewalt und Korruption können die Menschen in Afrika davon abhalten, auf der Flucht nach Europa ihr Leben aufs Spiel zu setzen.

* Name von der Redaktion geändert.

Das Interview führte Balint Kalotay.

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