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Vor 50 Jahren Polnischer Journalist: «Willy Brandts Kniefall überraschte alle»

Das Bild ist ikonisch: Vor 50 Jahren kniete Willy Brandt, damals deutscher Bundeskanzler, vor dem Mahnmal für die Opfer des Nationalsozialismus nieder. Journalist Jacek Lepiarz im Gespräch über die Nachwirkungen der Geste auf die deutsch-polnischen Beziehungen.

Zur Person

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Jacek Lepiarz ist freischaffender Journalist in Warschau und arbeitet regelmässig für die «Deutsche Welle».

SRF News: Würden Sie den Kniefall als den Moment bezeichnen, in dem die Normalisierung der polnisch-deutschen Beziehung ihren Anfang nahm?

Jacek Lepiarz: Der Kniefall kam spontan und überraschte alle, sowohl die deutsche Delegation als auch die polnischen Gastgeber. Das Foto ging um die Welt. Meine These ist aber, dass diese Geste ihre gewaltige Wirkung erst mit der Zeit voll entfaltete – nach dem Fall der Mauer, nach der Überwindung des Eisernen Vorhanges: in der Zusammenarbeit zwischen dem vereinigten Deutschland und dem demokratischen Polen.

Warum?

Der Kniefall hat die polnischen Kommunisten in Verlegenheit gebracht. Sie freuten sich über die Anerkennung der Grenze, aber sie brauchten weiterhin das Bild des bösen Deutschen für ihre Propaganda. Deshalb wurde das Bild vom knienden Brandt in den polnischen Medien auch nicht gezeigt. Ich besuchte damals die zehnte Klasse, war politisch sehr interessiert und habe an diesem 7. Dezember nichts mitbekommen. Ich habe das Bild erst zwei, drei Monate später im «Spiegel» gesehen.

Für viele polnische Kommunisten, aber nicht nur für sie, kniete Willy Brandt eigentlich am falschen Ort.

Zudem kniete Brandt für viele polnische Kommunisten, aber nicht nur für sie, eigentlich am falschen Ort. Denn nach ihrer Meinung sollte er nicht am Ghetto-Denkmal, sondern am Grabmal des unbekannten Soldaten oder an einem anderen Ort diese Ehre erweisen. Die polnisch-jüdischen Beziehungen waren nicht die besten. 1968 kam es in Polen zur antisemitischen Hetze und zur Ausreise von verbliebenen Juden nach Westen oder Israel.

Willy Brandt bei Unterzeichnung des Vertrags
Legende: Kurz nach der Kranzniederlegung unterzeichnete der deutsche Bundeskanzler Willy Brandt (links) den Vertrag, in dem die Bundesrepublik die polnische Westgrenze anerkannte. «Ich bitte für mein Volk um Verzeihung, bete auch darum, dass man uns verzeihen möge», sagte er später in einem Interview über seinen Kniefall. Keystone/Archiv

Dass Polen der Meinung war, Brandt hätte am falschen Ort gekniet: War das auch Ausdruck der ambivalenten Haltung, die Polen zu seiner eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg hatte?

Ja. Der Kniefall diente dann aber als Bezugspunkt für alle in Deutschland und in Polen, die an der echten Aussöhnung interessiert waren. Das war immer ein Symbol, auf das man zurückgreifen konnte.

Würdigungen aus Deutschland und Polen zum 50. Jahrestag

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50 Jahre nach dem Kniefall Willy Brandts hat der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Bedeutung der deutsch-polnischen Beziehungen gewürdigt. «Die Partnerschaft zwischen Deutschland und Polen ist eine wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Zukunft», sagte Steinmeier in einer Videobotschaft zum Jahrestag. «Aber wir werden auch die Vergangenheit nicht vergessen. Nicht das Leid der Menschen in Polen, nicht den historischen Mut zur Versöhnung und auch nicht einen Kniefall, der uns an all das erinnert.»

Auch Polen hat die Geste gewürdigt. «Für uns Polen hatte der Kniefall von Kanzler Willy Brandt eine grosse Bedeutung. Es gibt Handlungen, die sich als Ikone erweisen, die mehr ausdrücken können als Worte», heisst es in einer Erklärung der Kanzlei von Polens Präsident Andrzej Duda. Das gemeinsame Erinnern an diese Geste sei eines der Fundamente der guten, partnerschaftlichen und auf der Wahrheit beruhenden polnisch-deutschen Beziehungen.

Heute sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern wieder sehr kühl. Was ist das grösste Problem?

Die Versöhnung war nie eine leichte Aufgabe. Zwischen Polen und Deutschland liegen sechs Millionen Tote des Zweiten Weltkrieges. Seit fünf Jahren sind in Polen die Nationalkonservativen an der Regierung, und zu ihrer DNA gehört ein Misstrauen gegenüber Deutschland.

Die Sympathiewerte für Deutsche in Polen sind in letzter Zeit gefallen.

Es gibt viele Streitpunkte zwischen Polen und Brüssel. Die Regierungspropaganda versucht aber, diese Konflikte als deutsch-polnische Konflikte darzustellen. In dieser Erzählung ist Ursula von der Leyen nicht die Präsidentin der Europäischen Kommission, sondern eine Deutsche, die ihre Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg nicht gezogen hat. Das vergiftet die Beziehungen. Und das sieht man auch in Umfragen: Die Sympathiewerte für Deutsche in Polen sind in letzter Zeit gefallen.

Also war der Kniefall von Willy Brandt zwar für die Deutschen wichtig, in gewissen Massen auch für die Polen, aber eben nicht nachhaltig?

Ich würde sagen, man muss sich jeden Tag um die Verständigung bemühen. Und es hätte den Kniefall nicht gegeben, wenn Willy Brandt auf die Umfragen geschaut hätte. Dasselbe gilt für den Brief der polnischen Bischöfe von 1965 mit dem berühmten Satz: «Wir vergeben und bitten um Vergebung.» Vielleicht gibt es heute zu wenige solche Persönlichkeiten, und vielleicht ist es deshalb um unsere Welt nicht so gut bestellt.

Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.

Echo der Zeit, 7.12.2020, 18 Uhr ; 

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