SRF News: Hat Puigdemont mit dem Verzicht auf die sofortige Unabhängigkeit dem grossen Druck von allen Seiten nachgegeben?
Julia Macher: Ihm blieb nicht viel anderes übrig, wenn er Katalonien nicht an den Rand eines Ausnahmezustands bringen will. Auf eine Sezession, wie sie Puigdemont vorschwebt, muss man mental vorbereitet sein. Doch als vor ein paar Tagen einige Banken und Grossunternehmen ankündigten, ihren Sitz verlegen zu wollen, hat das einem Teil der sehr heterogenen Unabhängigkeitsbewegung einen heftigen Dämpfer versetzt. Ihnen war die Reise in eine ungewisse Zukunft dann doch allzu abenteuerlich.
Auch ist Puigdemonts Versuch der letzten Wochen, aus der Katalonien-Frage ein internationales Thema zu schaffen, nicht ganz aufgegangen. Zwar wird überall breit über Katalonien berichtet, doch auf politischer Ebene gibt es bisher keinen Vermittler. Nun unternimmt er einen letzten Versuch in dieser Richtung. Puigdemont sprach in seiner gestrigen Rede fünf Mal von der Internationalen Gemeinschaft – das Wort Unabhängigkeit aber nahm er nicht ein einziges Mal in den Mund.
Nach seiner Rede unterzeichnete Puigdemont zusammen mit anderen katalanischen Politkern eine Unabhängigkeitserklärung. Darin wird die internationale Staatengemeinschaft aufgerufen, Katalonien als souveräne Republik anzuerkennen. Was soll das, wenn er doch kurz zuvor gesagt hatte, die Unabhängigkeit vorderhand nicht umzusetzen?
Es ist eine Geste der Beschwichtigung an all jene, die über seine Rede traurig, wütend oder enttäuscht waren. Den meist unabhängigkeitsbefürwortenden Zuschauern vor den Grossleinwänden in Barcelona fielen während Puigdemonts Rede buchstäblich die Kinnlade herunter, als er zuerst die Unabhängigkeit ausrief und diese acht Sekunden später wieder suspendierte. Sie brauchen eine Art Beweis, dass es Puigdemont trotzdem ernst ist. Deshalb diese symbolische Erklärung. Ausserdem wollte Puigdemont die kleine linksradikale Partei KUP beruhigen. Sie stützt seine Regierung und möchte den sofortigen Bruch mit Spanien.
Was wird die spanische Zentralregierung jetzt tun?
Das wird sich zeigen. Premier Mariano Rajoy traf sich gestern schon mit dem Oppositionsführer, heute trifft sich der Ministerrat. Weiterhin im Gespräch sind Massnahmen wie die Aufhebung der katalanischen Autonomie oder Haftstrafen für die Separatistenführer. Allerdings würde dies den Konflikt weiter anheizen, Madrid würde Märtyrer für die Unabhängigkeitsbewegung schaffen. Andererseits kann sich Rajoy nach dem Referendum nur schlecht auf Gespräche einlassen, auch wenn Puigdemont darum bittet. Das würden ihm seine Wähler nicht verzeihen. Einfach warten und vorerst nichts tun ist auch problematisch, weil so der Druck auf Rajoy aus der eigenen Partei weiter zunimmt.
Puigdemont will sich als der Kompromissbereite positionieren – auch gegenüber der spanischen Öffentlichkeit.
Glaubt Puigdemont, er könne mit einem Aufschub der Unabhängigkeit die spanische Zentralregierung zu einem Umdenken bewegen?
Mit seiner Rede am Dienstag ging es Puigdemont eher um die Weltöffentlichkeit als um Rajoy. Tausend Journalisten waren akkreditiert, ein Wald von Kameras war vor dem Parlamentsgebäude aufgebaut. Der katalanische Regierungschef will sich als der Gute, als der Kompromissbereite positionieren – auch gegenüber der spanischen Öffentlichkeit. So hielt er einen Teil der Rede auf Spanisch und wandte sich damit an jene Spanier, die ausserhalb Kataloniens ein «echtes» Unabhängigkeitsreferendum als Ausweg aus der verfahrenen Lage sehen. Allerdings wären Verhandlungen darüber wohl erst mit einer neuen Regierung in Madrid möglich.
Was wird Puigdemont jetzt tun?
Er wird vorerst wohl ein paar Tage lang auf eine Reaktion aus Madrid warten und nichts tun. Erst dann wird er reagieren und sich allenfalls vor der Weltöffentlichkeit als der Leidtragende präsentieren, sollte die Reaktion hart ausfallen. Sollte sie sanfter ausfallen, besteht vielleicht doch noch die Chance auf Gespräche.
Der Konflikt ist also bloss aufgeschoben – und er könnte sich auch wieder verschärfen?
Er geht nun in eine neue Runde, so viel ist sicher. Ob es die letzte Runde ist, bleibt aber offen. Spätestens in vier Wochen kommt das Thema wieder auf den Tisch, denn dann läuft die Frist ab, die sich die katalanische Regierung selber für Verhandlungen mit Spanien gesetzt hat.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.