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Wirtschaftskrise im Libanon Die Wut der Hungrigen

Die Wirtschaft des Libanon war gerade dabei zu kollabieren. Dann kam das Coronavirus und machte alles noch schlimmer.

Das Video kennt inzwischen jeder, der im Libanon ein Smartphone hat – also alle. «Ich schwöre bei Gott, wir verhungern!», ruft ein Mann den Polizisten zu, die gerade versuchen, die Strassenblockade mit brennenden Autoreifen zu räumen. Worauf einer der Offiziere zurückruft: «Ich habe noch mehr Hunger als Du!»

Die Szene spielte sich Anfang dieser Woche ab, und sie fasst alles zusammen: die Wut der Bürger, den Zerfall des Staates, der sogar seine Polizisten nicht mehr anständig bezahlen kann, die Verzweiflung aller, die die Libanesen trotz Corona wieder auf die Strasse treibt.

Zeit nicht genutzt

Dabei hatte der Ausbruch der Pandemie der Elite des Landes zu Beginn noch die Gelegenheit geboten, die letzten Reste der im Herbst ausgebrochenen Protestwelle zu zerschlagen. Damals war der Premierminister aus dem Amt gedrängt und das Land wochenlang lahmgelegt worden. Erst im Corona-Lockdown gelang es dem alten System, die letzten Widerstandsnester jenes Protests zu räumen.

Doch statt die Zeit zu nutzen, stritten die Mächtigen lieber weiter um Posten und Pfründen. Seit dem Ende des 15-jährigen Bürgerkrieges leisteten sich die Mächtigen des Libanon dank billigem Geld aus dem Ausland und hemmungslosem Schuldenmachen goldene WC-Schüsseln. Bis das Schneeballsystem zusammenbrach.

Währung im freien Fall

Weil seit 2011 mehr Dollar abfliessen als hereinkommen, und weil die Schulden inzwischen zu den dritthöchsten der Welt angewachsen sind, befindet sich die Währung im freien Fall. Der offizielle Wechselkurs lag bis zuletzt bei 1500 libanesischen Lira zu 1 Dollar. Auf dem Schwarzmarkt knackte der Dollar dieser Tage die Marke von 4000 Lira.

Das Problem dabei: die meisten Libanesen halten ihr Guthaben in Dollar. Weil die Banken nun aber keine Dollar mehr haben, zahlen sie diese Guthaben nur noch in Lira aus. Zum offiziellen Wechselkurs, während der echte Wechselkurs und damit die Preise täglich in die Höhe schiessen. Hyperinflation zulasten der kleinen Sparer. «Man muss es so deutlich sagen: Die Leute werden beraubt. Die Kaufkraft schwindet täglich, die Menschen verarmen, und es ist nur logisch, dass sie die Initiative übernehmen und auf die Strasse gehen, um sich zu wehren!»

Man muss es so deutlich sagen: Die Leute werden beraubt.
Autor: Sami Nader Ökonom und Direktor des Levant Institute für Strategische Angelegenheiten

Sami Nader ist Ökonom und Direktor des Levant Institute für Strategische Angelegenheiten. Für ihn ist klar, dass diese Proteste nur der Anfang sind einer neuen Welle der arabischen Aufstände. Und Nader befürchtet, dass diese jüngste Welle des arabischen Erwachens nicht mehr so friedlich sein wird, wie diejenige von letztem Herbst: «Ich fürchte, dass der Hunger die Leute gewalttätig werden lässt. Was willst Du zu einem Vater sagen, der kein Geld hat um seinem Neugeborenen Milchpulver zu kaufen? Er wird es sich irgendwoher holen.»

Wahl zwischen Essen oder einem Dach über dem Kopf

Jetzt zerstört das Coronavirus – oder vielmehr die Massnahmen gegen die Pandemie – die letzten Reste der libanesischen Wirtschaft. Mit einem Grossteil der Beschäftigten im informellen Sektor, leiden die Libanesen besonders stark unter der Schliessung von Restaurants und Kaffees, kleinen Werkstätten und Einmann-Handwerksbetrieben.

«Wenn Du ein Dach über dem Kopf haben willst, musst Du aufs Essen verzichten. Wenn Du essen willst, musst Du auf das Dach über dem Kopf verzichten. Du musst Dich entscheiden – beides kannst Du nicht haben.» Latifa schüttelt den Kopf. Früher nannten die Libanesen ihr Land die Schweiz des Nahen Ostens. Heute, so sagen sie, sei der Libanon das Venezuela des Nahen Ostens.

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