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International Zwischen Kapitulation und Knast

Lagerhaft für Michail Chodrokowski, Pussy Riot und nun auch für Alexej Nawalny. Der Kreml hat ein weiteres Repressionsmittel gegen die Opposition gefunden: Schauprozesse. Todesstoss oder neuer Ansporn zum Kampf? SRF-Korrespondent Peter Gysling gibt Einblick in die russische Seele.

SRF News Online: Die Opposition gerät seit der Wiederwahl Wladimir Putins ins Präsidentenamt immer weiter unter Druck. Mit welchen Methoden entledigt sich der Kreml besonders gern seiner Kritiker?

Peter Gysling: Seit Putins Wiederwahl 2012 werden laufend neue, repressive Gesetze erlassen. Diese Gesetze schränken den Freiraum der Opposition ein. Zusätzlich hat die Opposition oft keine Chance am demokratischen Prozess teilzunehmen. Entweder, weil man ihre Partei von den Wahlen ausschliesst oder, weil die offiziellen Kandidaten der Regierung in den Medien so präsent sind, dass die Kandidaturen der Opposition von einer Bevölkerungsmehrheit gar nicht zur Kenntnis genommen werden können. Ein weiteres repressives Mittel sind die politischen Justizverfahren. Dazu gehört auch der Prozess gegen den Oppositionellen Alexej Nawalny. Aus Sicht praktisch aller Beobachter handelt es sich dabei um ein politisch motiviertes Verfahren ohne wirklich überzeugende rechtliche Grundlage.

Die Justiz fungiert also als verlängerter Arm der Regierung. Da drängt sich der Vergleich mit Sowjetzeiten auf. Sind die Gesetze tatsächlich so repressiv geworden oder werden sie einfach zugunsten der Staatsmacht ausgelegt?

Viele Russinnen und Russen haben den Eindruck, dass sich die innenpolitische Stimmung hier im Land rückwärts bewege. Mit den schlimmen Stalinjahren allerdings kann man die heutige Situation in Russland nicht vergleichen. Damals sind ja jeweils Tausende verhaftet und erschossen worden. Die heutige Justizwillkür aber führt tatsächlich dazu, dass einzelne unliebsame Personen im Straflager landen oder für Monate in Untersuchungsgefängnisse weggesperrt werden – ohne dass es zu einem Gerichtsverfahren kommt.

Man kann aber nicht verkennen, dass die russische Justiz eine von oben gesteuerte, politische Justiz ist. Wenn man einmal in die Mangel der russischen Justiz gerät, hat man praktisch keine Chance, sich zu wehren. Als Beispiel: Der Richter, der jetzt Nawalny verurteilt, rühmt sich geradezu, dass er noch nie jemanden, der von der Staatsmacht angeklagt worden ist, nicht verurteilt hat.

Haben Schauprozesse und die anderen repressiven Massnahmen also tatsächlich ihre von Putin erhoffte, abschreckende Wirkung?

Ja, sie haben eine grosse Wirkung – nämlich eine entmutigende. Und das führt zu einer Lähmung der Zivilgesellschaft. Ein Rückschlag für die Bürgerbewegung, die nun nach der Ankündigung Putins und Medwedews noch einmal in rotierten Funktionen zu den Präsidentschaftswahlen anzutreten, ganz sanft entstanden war. Vor allem aber auch nachdem die Duma-Wahlen im Dezember 2011 zum Teil manipuliert worden sind.

Die Opposition ist sich nur in einem Punkt einig: Putin muss weg. Reicht das?

Nein, das reicht nicht. Im Moment hat die Opposition keine Chance: sie ist zerstritten, hat kein einheitliches Programm und hat auch keine Identifikationsfiguren, die Putin oder wichtige Leute im Staatsapparat ersetzen könnten. Das heisst nicht, dass es sie nicht geben würde, aber sie sind an der Oberfläche nicht sichtbar.

Man wird den Eindruck nicht los, dass sich die Russen zu viel gefallen lassen. In der Türkei oder in Ägypten gehen Millionen von Menschen tagelang auf die Strasse, um gegen die Regierung zu protestieren. Wieso geschieht das in Russland nicht?

Das hat unter anderem mit einem gewissen Obrigkeitsdenken zu tun. Der Russe ist es gewohnt, seine Situation zu ertragen. Er ist geübt in der Duldsamkeit. Das war unter dem Zar so, als noch die Leibeigenschaft galt und dann auch während der Sowjetzeiten. Dennoch: für Russland waren die jüngsten Demonstrationen in den grossen Zentren wie Moskau und St. Petersburg ein riesen Erfolg. Da kamen zum Teil bis zu Hunderttausend Menschen zusammen, auch wenn das nicht mit den Massenprotesten in der Türkei oder in Ägypten vergleichbar ist.

Doch es ist nicht nur die Duldsamkeit. Die Russen verabscheuen das Blutvergiessen auf Grund ihrer historischen Erfahrungen. Der Zweite Weltkrieg sitzt vielen noch im Nacken. Zusätzlich haben die Menschen nicht wirklich eine Wahl. Formal zwar schon, in der Wahrnehmung hingegen ist Putin einfach der Präsident. Viele Russen – gerade aus den ländlichen Gebieten – beklatschen ihn als eine Art Zar, der einfach per se Präsident ist. Putin könnte ebenso eine Abstimmung über eine Präsidentschaft auf Lebenszeit durchführen. Die Leute würden Ja sagen. Auf Grund der Kampagne gibt es keine echte Alternative.

Putins Methoden erinnern wie gesagt stark an die Sowjetzeit. Das kommunistische System scheitere unter anderem daran, dass die Opposition nicht eingebunden wurde. Das richtige Rezept für Putin?

Peter Gysling

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Peter Gysling arbeitet seit 1980 als Journalist für SRF. Während des Mauerfalls war er Korrespondent in Deutschland. Von 1990 bis 2004 und erneut seit 2008 ist er Korrespondent in Moskau.

Das lässt sich schwer abschätzen. Ich war zur Zeit des Mauerfalls Korrespondent in Deutschland und dann auch in Moskau als die Sowjetunion zusammenbrach. Beide Ereignisse liessen sich nicht vorhersehen. In der Geschichte ist es oft so, dass man überrascht wird. Wenn man dann aber auf die Ereignisse zurückblickt, kann man sofort nachvollziehen, weshalb sich etwas so oder so entwickelt hat.

Es wäre theoretisch möglich, dass Putin nochmal eine sechsjährige Amtszeit anhängt. Er wäre dann bis 2024 Präsident. Das führt heute dazu, dass vor allem gut Ausgebildete keine Zukunft mehr im eigenen Land sehen. Der Exodus, der Willen auszuwandern, ist in den letzten paar Monaten exponentiell angestiegen. Immer mehr auch ältere Gutbetuchte kaufen Liegenschaften in Spanien oder sorgen dafür, dass ihre Kinder im Ausland studieren können. Eine fatale Entwicklung, wenn die fähigen Leute, die in der Heimat keine Chance erkennen, das Land verlassen. Hinzu kommt noch die demografische Situation. Es gibt Statistiken, die davon ausgehen, dass in 30 bis 40 Jahren die Bevölkerung von heute 140 Millionen auf 100 Millionen Einwohner schrumpft.

Ein weiterer negativer Faktor ist die schwächelnde Wirtschaft. Besteht hier eine Gefahr für Putin?

Ich denke, dass eine wirtschaftliche Stagnation einsetzen wird. Ich sehe überhaupt keine Perspektive, dass sich unter Putin eine Modernisierung abzeichnet. Und das führt wieder zur genannten Hoffnungslosigkeit und schlussendlich zum Exodus der jungen Generationen. Wenn sich hier jemand um eine staatliche oder halbstaatliche Stelle bemüht, dann ist die Qualifikation eher unbedeutend. Chancen haben Protegés von hochgestellten Beamten. Gute Stellen bekommt, wer gute Beziehungen hat. Will man Polizist auf einem guten Polizeiposten werden, dann muss man dafür zahlen. Denn sobald man die Stelle hat, kann man so genannte Bussgelder kassieren und verfügt damit über einen einträglichen Job. Das gilt vor allem für die oberen Kader. Es ist kein offener Stellenmarkt, wie man ihn bei uns kennt, sondern es ist zum Teil eine klar von Nepotismus geprägte Günstlingswirtschaft.

2014 finden in Sotschi die Olympischen Winterspiele statt. 2018 folgt die Fussball-Weltmeisterschaft in Russland. Brot und Spiele als Beruhigungspille für das russische Volk?

Das sehe ich eigentlich nicht so. Das Volk bleibt in meinen Augen weitgehend aussen vor. Ähnlich wie bei der Fussball-Europameisterschaft in der Ukraine im letzten Jahr. Die Leute werden die Olympischen Winterspiele im Fernsehen zur Kenntnis nehmen, aber gerade Wintersport interessiert die Russen eher wenig, abgesehen vom Eishockey und dem Eiskunstlauf. Ein durchschnittlicher Russe kann es sich gar nicht leisten, nach Sotschi zu gehen. Es ist weniger eine Beruhigungstablette für das russische Volk, als eine Droge für die russische Regierung. So kann die Führung nach aussen brillieren.

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