Seit Anfang Mai betreiben die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) einen besonderen Versuch: Statt in der Klinik werden akut gefährdete und psychisch schwer belastete Kinder und Jugendliche bei ihnen zuhause statt in der Klinik behandelt. Klinikdirektor Michael Kaess erwartet langfristig bessere Ergebnisse und zugleich geringere Kosten.
SRF News: Wie wichtig ist es, dass das persönliche Umfeld der Kinder und Jugendlichen in die Behandlung miteinbezogen wird?
Michael Kaess: Wir können zum einen das Umfeld des Kindes als mögliche Ursache der psychischen Problematik gleich mitbehandeln. Zum andern können wir dieses Umfeld zur Unterstützung der Therapie nutzen. Und wir haben den Vorteil, dass die Patienten nach der Behandlung die Möglichkeit haben, gleich wieder an ihren Alltag anzuknüpfen.
Geht es den Jugendlichen dann besser?
Grundsätzlich ist es so, dass für Kinder und Jugendliche die Trennung von Eltern und Freunden, das monatelange Wegsein von Zuhause, eine zusätzliche Belastung darstellt. Alleine deshalb schaffen wir für die Patienten eine Entlastung.
Sie erwähnen monatelange Behandlungen. Sind sie denn täglich bei den Kindern und Jugendlichen zuhause und werden so fast zu einer Art Ersatzfamilie?
Ja. Wir sind täglich dort. In unterschiedlichen Zusammensetzungen. Mal die Ärzte und die Pflegenden, mal die Psychologen oder das Pädagogik-Personal. Mal einzeln, mal auch gemeinsam.
Die Familie soll Bestandteil der Therapie sein.
Was wir sicherlich nicht sein wollen, ist die Ersatzfamilie. Zu einer solchen werden wir teilweise eher im stationären Aufenthalt. Wir haben klar die Erwartung, dass die Familie Bestandteil der Therapie bleibt. Wir versuchen, das Umfeld stark in die Behandlung mit einzubeziehen.
Wie muss man sich das vorstellen, wenn Sie am Wohnort aufkreuzen?
Wir haben mehrere Fahrzeuge, damit fahren wir an den Einsatzort. Wir haben eine Art Taxizentrale, die uns die Einsätze koordiniert. Am Ziel angekommen, machen wir dann das gleiche wie in der Klinik. Einfach nur im Wohnzimmer, im Kinderzimmer oder in der Küche.
Wie reagieren die Leute im Haus, im Quartier, wenn die Psychiatrie anrauscht?
Über unsere Wirkung haben wir uns in der Tat viele Gedanken gemacht. Wir haben zum Beispiel überlegt, ob wir das Logo der UPD auf unser Auto aufdrucken lassen sollen. Das haben wir verworfen, weil wir die Sorge hatten vor einer Stigmatisierung.
Aber eigentlich haben wir auch die Hoffnung, dass sich die Leute daran gewöhnen könnten, dass Psychiatrie-Autos vor den Häusern stehen. Wir bringen die Psychiatrie damit ein bisschen in den Alltag der Menschen. Ehrlich gesagt: Da gehört sie auch hin.
Es gilt auch in der Psychiatrie die Regel ambulant vor stationär. Aber bedeutet Ihr Modell nicht mehr Aufwand als bei der Klinikbehandlung?
Natürlich haben wir einen erhöhten Aufwand. Das stimmt. Aber an anderen Stellen sparen wir ein. Wir sparen beispielsweise die Aufsicht, die wir in der Klinik über 24 Stunden gewährleisten müssen. Wir sparen längerfristig auch an Infrastruktur. Die Zahl der Klinikplätze soll – wenn die Methode sich bewährt – zurückgehen.
Wir setzen den Grundsatz ‹ambulant vor stationär› um und verbessern die Behandlung.
Allein durch die Bewirtschaftung von Betten und Gebäuden haben wir auch in der Psychiatrie hohe Gesundheitskosten. Alles Fixkosten, die nicht unmittelbar der Behandlung zugute kommen. Wir haben das Gefühl, dass wir mit unserem neuen Modell den Grundsatz «ambulant vor stationär» gut umsetzen und gleichzeitig die Behandlung verbessern.
Das Gespräch führte Michael Sahli.