Als Direktor genoss Heinrich Haller ein Privileg. Als einer von ganz wenigen durfte er – von Amtes wegen – abseits der markierten Wege durch den Nationalpark streifen. Einzig das besonders unwegsame und wilde Val Nüglia – das Tal des Nichts – habe er nie betreten, sagt er, und zwar aus Ehrfurcht: «Im Nachhinein finde ich es besonders schön, dass ich nie dort war. Das hat mit dem Respekt zu tun, den man dieser unberührten Natur entgegenbringt», so der 65-Jährige.
Befreundet mit den Raben
Abgesehen vom Val Nüglia kennt er aber jeden Stein und jede Schlucht im Park. Er kennt die knorrigen Arven, die dunklen Höhlen, die kargen Bergflanken, die Steinadler und die Gämsen. Ganz besonders haben es ihm die Kolkraben angetan. Seit Jahren dokumentiert er das Leben der schwarzen, grossen Vögel. Er kennt sie – sie kennen ihn.
Freiluftlabor und Tourismusmagnet
Seit seiner Jugend beobachtet, beschreibt und analysiert der Wildbiologe die Tierwelt. Heinrich Haller ist Forscher durch und durch – auch wenn er in seinem bereits leergeräumten Büro in Zernez über den ältesten und am stärksten geschützten Park der Alpen spricht.
Für die Beibehaltung dieses maximalen Schutzes hat er gekämpft. Und unter seiner Ägide wurde die Forschung intensiviert. Gleichzeitig ist der Park nicht nur ein Freiluftlabor für Wissenschaftler aus der ganzen Welt, er hat sich auch zum Tourismusmagneten entwickelt.
Eine Begegnung löst Glücksgefühle aus
In die Amtszeit von Heinrich Haller fällt auch die Rückkehr der Grossraubitere. Luchs, Bär, Wolf. Alle Tiere hat er beobachtet im Park. Auf eine Begegnung mit dem Wolf musster er aber lange warten. Erst im letzten Jahr konnte er ihn am Ofenpass beobachten. Und während bei ihm diese Begegnung ganz im Osten des Landes noch Glücksgefühle auslöst, wird im Westen, in Bundesbern der Schutzstatus für das Tier gelockert. Haller ärgert sich und spricht von einem Fehlentscheid der Politik.
Das ist ein Fehlentscheid der Politik!
Der scheidende Parkdirektor bedauert auch, dass es in den vergangenen Jahren nicht gelungen ist, in der Schweiz weitere Nationalparks einzurichten. Um solche Projekte realisieren zu können in Zukunft, braucht es seiner Meinung nach etwas weniger Basisdemokratie, dafür aber mehr Einfluss vom Bund – beispielsweise in Form finanzieller Anreize. Und überhaupt:«Man muss in viel grösseren Zeiträumen denken», sagt der gebürtige Aargauer.
Hallers Wunsch: Ein Nationalpark im Kanton Aargau
In seiner alten Heimat sieht er Potenzial für einen weiteren Nationalpark – und zwar im Bereich der grossen Flüsse im Kanton Aargau. Heinrich Haller wünscht sich eine Ruheinsel in einem Gebiet, das immer mehr zur Agglomeration wird. Es ist Heinrich Hallers Plädoyer für mehr Wildnis, nicht nur in den Bergen, sondern auch im städtischen Mittelland.
Nun verabschiedet sich Heinirch Haller nach fast 24 Jahren in die Pension. Die freie Zeit wird er unter anderem für die weitere Erforschung der Kolkraben nutzen. Im Herzen ist dieser Nationalparkdirektor nämlich immer ein Wissenschaftler geblieben.