Sie prägen das Ortsbild in Rohr, zum Teil seit genau 100 Jahren. Das Chalet Baglivo oder das Chalet Senn daneben, an der Hauptrasse im Aargauer Stadtteil Rohr. Rundherum stehen in Rohr moderne Flachdachbauten, Mehrfamilienhäuser, Neubauten. Nur die Chalets haben es viele Jahre und Generationen ausgehalten. Investoren waren auch schon an den Häusern interessiert, planten Neubauten, aber das ist nicht passiert.
Gebaut wurden die Häuser für Arbeiter der nahe gelegenen Färberei. Diese stand im heutigen Telli-Quartier. Die Industriellenfamilie Jenny führte die Färberei und baute die Chalets vor allem für jene (Einwanderer-) Arbeiter, die Kinder hatten. «Mit Kindern in den Baracken wohnen, gleich neben der Fabrik, das war damals eher schwierig», erinnert sich Enrico Baglivo. Deshalb habe die Industriellenfamlie die Chalets gebaut, in jedem Stock waren damals Arbeiterfamilien einquartiert. «Weshalb sie den Chalet-Stil wählten, ist nicht klar. Das war ihre Vorstellung von Arbeiterhäusern», sagt Rohrkenner Paul Lüthy.
Enrico Baglivo wuchs im ersten der drei Chalets auf, zusammen mit drei Schwestern. Seine Eltern kamen aus Italien in die Schweiz, das Chalet wurde zur Hauptdrehscheibe der Familie. Das Haus mit Laube, vielen engen Treppen, Holztäfer, Kachelöfen und engen Zimmern erzählt noch heute von der Geschichte der Arbeiter damals und der nachfolgenden Generationen.
Paul Lüthy, pensionierter Lehrer und Mitherausgeber eines Bildbandes aus Rohr ist fasziniert von den Chalets und ihrer Geschichte. Die Häuser sind nicht denkmalgeschützt, weder kommunal noch kantonal. Trotzdem liegt Lüthy deren Erhalt am Herzen. «Flachdächer sind am richtigen Ort gut. Aber das Ensemble mit den drei Chalets, das ist charakteristisch für Rohr. Das muss man unbedingt erhalten», so Lüthy.
50'000 Franken bezahlten die Eltern von Enrico Baglivo damals für das Haus, das sie 1978 dann selbst erwerben konnten. «Ich würde sofort wieder einziehen, auf dem Haus sind keine Schulden und ich habe immer wieder Hühnerhaut, wenn ich hier reinkomme», sagt der Sohn der italienischen Einwanderer. Er und seine drei Schwestern sind hier aufgewachsen, er wohnt im Nachbardorf Buchs. «Alle Kinder haben unterdessen selber ein Eigenheim, aber wir sind stolz auf das Chalet der Eltern. Es soll stehen bleiben».
«Damals gab es keine Nasszellen, ein WC, ein Loch und fertig. Gewaschen wurden wir Kinder in der Küche, die Mutter heizte das Wasser auf dem Eisenherd, der mit Holz geheizt wurde», erinnert sich Enrico Baglivo. Später dann bauten die Eltern eine Badewanne im Untergeschoss ein. «Nach dem Baden wickelten sie uns in einen Bademantel, dann gings raus in die Kälte und die Treppe hoch, rasch auf den warmen Ofen», erzählt Baglivo.
Innentreppen gibt es nicht überall im Haus, der Gang in gewisse Zimmer führt auch heute noch nach draussen. Das Telefon im Gang erinnert an frühere Zeiten, die knarrenden Treppen haben viel erlebt. «Abschleichen war als Jugendlicher in dem Holzchalet nicht einfach», erinnert sich Baglivo. Rundherum war die Verwandtschaft einquartiert, oben wohnte ein Onkel von Enrico Baglivo, noch heute wohnt sein Götti im Haus nebenan. «Die Nachbarschaft war wunderbar. Der Zusammenhalt war immer gut», erinnert er sich.
Vor einem Monat ist Mutter Baglivo verstorben. Die Kinder möchten das Chalet aber nicht verkaufen. Im oberen Stock zieht allenfalls der Neffe und seine Kinder ein, den unteren Stock behalten die Kinder, mit vielen Erinnerungstücken der Eltern. Hier lagern schon fast historische Artikel, Schreibmaschinen aus den 20er-Jahren, Kassen aus Holz, alte Radios – auch sie erzählen von vergangenen Zeiten, von Generationen, die nichts weggeworfen haben, sondern Möbel, Kaffemühlen und Regale aufbewahrt haben.
Als Nächstes wird die Fassade der Chalets aufgefrischt. «Das wollte unsere Mutter sowieso anpacken, schade, dass sie es nicht mehr erlebt», sagt Sohn Enrico Baglivo. Das Haus und dessen Sammelstücke im Innern erzählen eine ganze Lebensgeschichte, von der Einwanderung des italienischen Paares über das Arbeitsleben in der Schweiz bis zum Alltag einer älteren Frau in einem Haus voller steiler Treppen. Nun wagen Familie und Haus den Schritt in die Zukunft und versuchen, das Wertvolle daran und darin weiterhin zu erhalten.