SRF News: Woraus sind die Ortsgemeinden entstanden?
Marcel Mayer: Bis 1798 war St. Gallen ein kleiner, eigenständiger Staat mit rund 8'000 Einwohnern. Aber nicht alle hatten die gleichen Rechte. Nur die wohlhabenden Männer hatten die Bürgerschaft. 1798 wurde die ganze Schweiz von den Truppen der Französischen Revolution erobert. Diese brachten unter anderem den Grundsatz der «Égalité», der Gleichheit, worauf alle Bürger (also immer noch erst die Männer) die gleichen Rechte bekommen sollten. So entstanden die politischen Gemeinden.
Und parallel dazu die Ortsgemeinden?
Genau. Es gab einen Haken. Die alten Bürgergemeinden hatten viel Besitz. Und wenn nun die politischen Gemeinden dieses Gut übernommen hätten, hätte man Bürger enteignen müssen. Das widersprach der bürgerlichen Grundlage der Französischen Revolution und deshalb gründetet man die Ortsgemeinden zur Verwaltung des Bürgerguts.
Der Einfluss der Ortsgemeinde war früher also sehr viel grösser als heute, wo diese keinen politischen Einfluss mehr haben?
Der war sehr gross. Die politischen Gemeinden waren teilweise mausearm. Die Bürgergemeinde hatte zum Beispiel viel Bodenbesitz. Als die politischen Gemeinden Mitte des 19. Jahrhunderts anfingen Infrastrukturbauten zu erstellen, hatten sie gar keinen Boden. Diesen musste ihnen die Ortsgemeinde zur Verfügung stellen. Sie waren auf deren Wohlwollen angewiesen.
Heute sind die politischen Gemeinden einflussreich, die Ortsgemeinden haben politisch keinen Einfluss mehr, wann ist das gekippt?
Die Ortsgemeinde St. Gallen hatte bis ins 20. Jahrhundert viel gebaut, zum Beispiel die heutige Kantonsbibliothek, alle Museen und sie hat sich beim Tonhallenbau und dem Bau der heutigen HSG beteiligt. Der Zusammenbruch fing mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch an. Ihr ging es finanziell schlecht, sie musste Steuern erheben. Dieses Recht hat sie heute zum Beispiel nicht mehr. Und im Jahr 2000 verloren die Ortsgemeinden die letzten politischen Aufgaben im Einbürgerungsbereich.
Das Gespräch führte Rebecca Dütschler.