Ein Zucker-Sensor hilft der Wissenschaft
«Die Ernährungswissenschaft ist eine sehr schwierige Wissenschaft» sagt Ernst Hafen, Biologe und Professor für Genetik an der ETH Zürich. Zum Beispiel wenn es darum geht, zu erklären, warum in den letzten Jahren in den USA und Afrika die Zahl der Diabetiker und stark Übergewichtigen geradezu explodierte. «Wir verstehen noch nicht, wie der Einzelne auf Fett und Zucker reagiert. Dazu benötigen wir bessere Daten», meint der Wissenschaftler.
Jeder verdaut anders
Denn der menschliche Soffwechsel ist ein komplexes System: Wir unterschieden uns durch unseren Vorlieben, durch unsere Erbanlagen und die Kleinstlebewesen, die wir im Darm mit uns herumtragen. Auch sie spielen eine wichtige Rolle: «In und auf uns leben zehnmal mehr Mikroorganismen, als der Mensch Zellen hat», so Ernst Hafen. Forscherinnen müssen alle diese Faktoren berücksichtigen.
Bis jetzt waren kontrollierte Studien nur unter Laborbedingungen möglich. Im Spital verabreichte man einer kleinen Zahl von Probanden Nahrungsmittel oder Zuckerwasser und beobachte dann, wie diese reagierten. Allgemeine Aussagen für den Alltag seien deshalb nur sehr schwierig zu machen, so der Wissenschaftler.
Ernst Hafen ist überzeugt, dass sich das nun ändert. Dabei hilft ein Glukose-Messsystem, das für Diabetiker entwickelt wurde.
Selbstvermessung in einer neuen Dimension
FreeStyle Libre heisst das Produkt. Das System besteht aus einem runden Sensor und einem Lesegerät. Die Plastikscheibe ist etwas grösser als ein Fünfliber, wiegt aber bloss ein Bruchteil der Münze (5 statt 35 Gramm). Mithilfe eines Applikators kann jeder den Sensor an seinem Oberarm anbringen.
Eine Feder stösst dabei eine feine, biegsame Nadel durch die Haut. Erstaunlich: Der Vorgang ist absolut schmerzfrei. Der Sensor klebt dann wie ein Pflaster während 14 Tagen auf der Haut – so fest, dass man damit zu Hause duschen oder baden kann. Ja sogar ins Schwimmbad kann man mit dem Sensor.
Der Chip misst rund um die Uhr in Abständen von einer Minute die Blutzuckerkonzentration in der Gewebeflüssigkeit und das so genau, dass das System in verschiedenen Ländern die Zulassung für Diabetiker erhalten hat. Seit Juli 2017 bezahlen die Krankenkassen auch in der Schweiz für das kontinuierliche Glukose Messsystem.
Citizen Science: Bürger spenden ihre Gesundheitsdaten
Obwohl er kein Diabetiker ist, misst auch Ernst Hafen seit sechs Wochen permanent seine Blutzuckerwerte. Als neugieriger Forscher will er verstehen, wie sein Körper auf Nahrungsmittel reagiert. Auch seine Frau habe sich sofort interessiert gezeigt, sagt der Wissenschaftler: «Wenn ich in meinen Körper schauen kann, dann mache ich auch mit», habe sie ihm gesagt.
Zu Beginn haben beide genau das Gleiche gegessen und dann ihre Blutzuckerwerte verglichen. Erste Erkenntnis: Die individuellen Unterschiede sind beträchtlich. Eine weitere Einsicht: Nach einem einzigen Süssgetränk schnellt die Zuckerkonzentration viel stärker in die Höhe als während eines ausgedehnten Nachtessens.
Für Ernst Hafen zeichnet sich eine neue Art der Forschung ab: Engagierte, interessiert Bürger wie er und seine Frau messen ihre Körperdaten und stellen die Resultate der Wissenschaft zur Verfügung. «Citizen Science» heisst dieser Trend, auf Deutsch etwa «Bürgerwissenschaft».
Denn bei der Blutzuckermessung wird es nicht bleiben. Auf ähnliche Weise lasse sich in Zukunft auch die Konzentration von Sauerstoff, Eisen oder bestimmten Hormonen im Blut nachweisen, meint Ernst Hafen. Riesige Datenmengen kommen so zusammen, die intelligente Software auswertet und die zu neuen Erkenntnissen führen werden.
Wie wird das unser Essverhalten verändern, was essen wir in 20 Jahren? «Das Gleiche wie heute, bloss bewusster» mein Ernst Hafen. Bei ihm hat der Selbstversuch bereits Wirkung gezeigt: Nachdem er gesehen hat, wie stark seine Zuckerwerte angestiegen sind, verzichtet er nun ganz auf Süssgetränke.