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Corona-Pandemie Wie hoch ist die Sterblichkeit von Covid-19?

Sie ist so etwas wie die Gretchenfrage bei den Corona-Massnahmen. Doch die Messung der Sterblichkeit ist schwierig.

Die Frage, wie hoch die Sterblichkeit von Covid-19 ist, wird heftig debattiert. Denn an dieser einen Zahl machen Befürworter und Gegner strenger Schutzmassnahmen ihre Meinung fest. Zugespitzt formuliert: ist die Sterblichkeit tief, sind strenge Coronaregeln überzogen, ist sie hoch, braucht es sie.

Zuletzt hat die Studie eines Forschers von der Stanford-University für Aufsehen gesorgt: Die Sterblichkeit von Covid-19 liege im Schnitt bei 0.23 Prozent: Von 10'000 Menschen, die mit dem Coronavirus infiziert wurden, sterben demnach 23 – deutlich weniger als bisher angenommen, schrieb Studienautor John Ioannidis. Bisherige Abschätzungen lagen beim doppelten bis vierfachen dieses Werts.

Anspruchsvolle Berechnung

Wer hat recht? Um diese Frage zu beantworten, muss man verstehen, wie die Sterblichkeit bestimmt wird, sagt der Epidemiologe Andrew Azman vom Genfer Universitätsspital. Azman hat die Covid-Sterblichkeit in Genf untersucht und er betont: Es ist anspruchsvoll, den korrekten Wert zu berechnen.

Im Prinzip muss man nur die Anzahl der Menschen, die in einem Land an Covid-19 gestorben sind, durch die Anzahl all jener dividieren, die mit dem Virus angesteckt waren. Klingt simpel, «aber bei der Bestimmung beider Zahlen können leicht Fehler passieren», sagt Epidemiologe Azman.

Beispiel Anzahl Covid-Tote: Vielerorts würden nur jene Fälle gezählt, die offiziell an Covid gestorben seien. Aber oft würden Menschen, die in Altersheimen oder zu Hause gestorben seien, nicht getestet und tauchten in den Berechnungen nicht auf – dadurch wird die Sterblichkeit unterschätzt.

Auch die Bestimmung aller Infizierten ist nicht trivial. Die Forscher benutzen dafür Antikörpertests, aber diese hätten eine gewisse Fehlerrate, sagt Azman. Darum müsse man die Testergebnisse mit statistischen Methoden korrigieren, aber dies werde oft nicht korrekt gemacht.

Dazu kommt: Man kann in einer Region nie alle Menschen testen, die Forscher wählen stattdessen eine Stichprobe aus – oder nutzen Daten, die durch andere Untersuchungen eh angefallen sind. Zum Beispiel bei Screenings von Gesundheitspersonal oder Blutspendern. Nur sind solche Stichproben selten repräsentativ.

Kombination fehlerhafter Studien

Zum Beispiel hat sich in England gezeigt, dass unter Blutspendern deutlich mehr Menschen eine Coronainfektion durchgemacht haben als Menschen aus einer repräsentativen Stichprobe der Gesamtbevölkerung. Vielleicht, weil Blutspender eher jung sind und das Haus während der Pandemie öfter verlassen als der Durchschnitt.

Covid-Patient im Tessiner Kantonsspital.
Legende: Es gibt verschiedene Studien zur Sterblichkeitsrate von Covid-19. Die meisten setzen sie zwischen zwischen 0.5 bis 1 Prozent an. Keystone

Viele Studien, die die Sterblichkeit von Covid-19 abschätzen, tun dies, indem sie viele einzelne Sterblichkeitsstudien aus verschiedenen Regionen kombinieren und miteinander verrechnen.

So hat es auch John Ioannidis in seiner eingangs erwähnten Studie getan. Aber er habe viele Studien einbezogen, die mit den eben diskutierten Fehlern behaftet seien, kritisiert Azman: «Er hat Studien schlechter Qualität nicht aus seiner Analyse ausgeschlossen.»

Die Sterblichkeit ist sehr stark von der Altersgruppe abhängig.
Autor: Andrew Azman Epidemiologe am Genfer Universitätsspital

Das Resultat: Ioannidis berechnet eine deutlich tiefere Sterblichkeit als viele andere Studien mit rigoroseren Qualitätskriterien. Die meisten sehen sie nicht bei 0.23 Prozent wie Ioannidis, sondern zwischen 0.5 bis 1 Prozent.

Und noch etwas kritisiert Epidemiologe Azman: Ioannidis und manch andere Forscher operierten hauptsächlich mit diesem einen durchschnittlichen Sterblichkeitswert über alle Altersgruppen. «Aber es gibt grosse Unterschiede zwischen den Altersgruppen, diese werden quasi verschleiert, wenn man nur einen Wert angibt.»

Ethisch-moralische Grundsatzfrage

Natürlich sei das Sterberisiko für Junge sehr klein, sagt Azman, aber schon für etwas Ältere sei es nicht zu unterschätzen: Die Genfer Studie ergab für 50- bis 64-Jährige eine zehnfach erhöhte Sterblichkeit gegenüber den 20 bis 49 Jährigen. Und gemäss einer anderen Studie liegt die Sterblichkeit bei 65-Jährigen bei 1.4 Prozent, bei den 75-Jährigen bereits bei 4.6 Prozent und bei den 85-Jährigen bei 15 Prozent.

Welche Sterblichkeit man als schlimm betrachte, sei eine gesellschaftliche Frage, sagt Azman. Aber man müsse sich bewusst sein: die vergangenen Monate hätten gezeigt, dass man die älteren Menschen nicht einfach abschirmen könne.

Das bedeutet: Steigen die Fallzahlen wie jetzt gerade, werden mehr Ältere infiziert – und es werden auch wieder mehr an Covid-19 sterben.

Echo der Zeit vom 22.10.2020, 18 Uhr

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