SRF News: Warum füttern so viele Menschen ihre Apps mit Daten über sich selber?
Steffen Mau: Ich nenne das «Datenvolontarismus», also die grosse Bereitschaft, in dieser neuen Gesellschaft der Quantifizierung mitzumachen. Einerseits besteht natürlich das Interesse, an den Gelegenheiten des Konsums, der Mobilität und der sozialen Medien teilzunehmen. Wer das macht, wird automatisch zum Datenlieferanten. Anderseits ist es auch das Interesse an der Rationalisierung des Selbst. Das Zählen der eigenen Schritte etwa gibt das Gefühl, mehr über sich selbst zu erfahren, sich besser selbst zu steuern und zu organisieren und sich vielleicht sogar zu optimieren.
Ökonomisch werden diese Daten im Big Data ausgeschlachtet. Was treibt diese Datenmaschinerie im Innersten an?
Daten sind auch ein Rohstoff für wirtschaftliche Wachstumsprozesse. Wenn man seine Daten weitergegeben hat, entstehen neue Daten, die weiterverkauft werden können. So gibt es neue Möglichkeiten der Kommerzialisierung, indem man einen als Konsument und ökonomischen Akteur auf neue Weise bewertet. Grosse US-Firmen machen das, indem sie grosse Datenpakete kaufen, um Individuen zu adressieren. Da hat man das ganze Spektrum von Informationen: Mobilitätsdaten und Konsumverhalten, aber auch welche Medikamente Menschen nehmen und wie sie im Arbeitsprozess abschneiden. Dies wiederum ermöglicht zielgerichtetere Werbung.
Gewisse Leute sagen, dass Big Data langfristig möglicherweise zum Zerfall einheitlicher Preisstrukturen führt.
Gewisse Leute sagen, dass dies langfristig möglicherweise zum Zerfall einheitlicher Preisstrukturen für Produkte führen wird. Denn mit solchen Daten kann man auch Präferenzen und eine Preissensibilität relativ gut abschätzen: Wenn man weiss, was jemand zu zahlen bereit ist, warum sollte man ihm dann nicht den maximalen statt einen einheitlichen Preis berechnen?
Die Vermessung ist also auch eine soziologische Entwicklung. Was verändert sich da in der Gesellschaft?
In unseren Alltagspraktiken verändert sich ganz viel. Die symbolische Kraft von Zahlen ist sehr stark. Wir glauben ihnen mehr und nehmen sozusagen deren objektiven Charakter wahr. Zahlen helfen auch, uns zu orientieren. Darüber verändern sich unsere Bewertungsweisen und allgemeinen Deutungsschemata.
Wenn wir nur noch in Zahlen denken, werden wir, wenn wir andere Menschen beobachten oder uns selbst bewerten, viel stärker an diesen Zahlen hängen. Zahlen ermöglichen beispielsweise sehr einfache Vergleiche. Zu denken ist etwa an die Bewertungsplattformen, wo man über Sternchen schnell feststellen kann, wer oben steht. Das führt zu sehr leicht lesbaren Hierarchien. Sobald wir diese verinnerlicht haben, denken wir eben auch stärker in diesen Kategorien und numerischen Differenzen.
Was verliert eine Gesellschaft, die sich dermassen stark an Zahlen orientiert?
Nur jene Dinge geraten noch in unser Gesichtfeld, die als Daten erscheinen, messbar und quantifizierbar sind. Alle anderen Dinge werden unsichtbar gemacht. Das gilt etwa auch für mein Wissenschaftsfeld, wo die Qualität einer wissenschaftlichen Arbeit immer mehr mit Leistungsmessungen anhand von Indikatoren wie Publikationindizes oder Zitathäufigkeit bewertet wird. Niemand oder nur noch wenige Menschen lesen die Publikation. Damit geht auch eine bestimmte Art von Urteilsvermögen verloren, die sich auf Einzigartigkeit und Originalität beziehungsweise Nichtvergleichbares bezieht. Daten führen immer zur Standardisierung und zum Abschleifen von Einzigartigkeiten.
Daten führen immer zur Standardisierung und zum Abschleifen von Einzigartigkeiten.
Kann man sich dieser Entwicklung nicht entziehen, indem man etwa das Datenarmband ablegt, Facebook abschaltet?
Natürlich kann man Aussenseiter der digitalen Welt sein, aber es ist verdammt schwer. Denn ganz viele Konsumangebote können ohne Computer gar nicht mehr wahrgenommen werden. Untersuchungen zeigen, dass selbst Personen, die grossen Wert auf Privatheit legen, eine relativ grosse Bereitschaft und Fahrlässigkeit bei der Datenweitergabe an den Tag legen.
Wenn der Staat auf Daten zugreift, schlägt man die Hände über dem Kopf zusammen. Wenn die grossen Internetkonzerne das machen, beunruhigt das zwar in gewisser Weise, aber es bleibt doch häufig folgenlos. Einfach weil man weiterhin reisen, einkaufen und mobil sein möchte. Damit wird man automatisch zum Datenlieferanten. Das ist eben das Originelle der heutigen Situation, dass es im gesellschaftlichen Normalbetrieb passiert – einfach so nebenbei. Sie müssen nur ihr Telefon mit herumführen, womit permanent Daten in die Cloud hochgeladen und weiterverwertet werden.
Das Originelle an der heutigen Situation ist, dass es im gesellschaftlichen Normalbetrieb passiert.
Sind Sie ein Techno-Pessimist?
Nein. Ich möchte das gar nicht so sehr als kulturpessimistische Perspektive begreifen. Denn Daten sind ja auch etwas unglaublich Wertvolles. Zu denken ist etwa an jene Daten für die medizinische Forschung, die sich sonst gar nicht so ohne Weiteres erheben liessen. Ich möchte aber aufzeigen, was in der Gesellschaft passiert und welche Strukturveränderungen es mit sich bringt. Vielleicht möchte ich auch einem allzu sorglosen Umgang mit Daten oder einer allzu grossen Zahlengläubigkeit ein bisschen etwas entgegenstellen. Mit dem Hinweis, dass sich eine Gesellschaft der «Numerokratie» nicht zwingend besser organisieren kann, sondern in mancher Hinsicht vielleicht sogar schlechter.
Eine Gesellschaft der Numerokratie kann sich nicht zwingend besser organisieren.
Das Interview führte Isabelle Jacobi.