Die «Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme» (ICD) gilt als wichtigstes Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. In der vorläufigen Version der 11. Auflage ist zum ersten Mal auch die Computerspielsucht enthalten. Als «Gaming Disorder» ist sie den Störungen durch süchtig machendes Verhalten zugeordnet.
Die fertige ICD-11 soll Mitte dieses Jahres erscheinen. Wenn die «Gaming Disorder» dort ihren Platz behält, wird die WHO Computerspielsucht offiziell als Krankheit anerkennen. Die Diagnose gilt, wenn mehrere Faktoren erfüllt sind:
- Betroffene haben die Kontrolle darüber verloren, wie lange oder wie oft sie Spielen.
- Gamen bestimmt den Alltag so sehr, dass alle anderen Aktivitäten und Interessen verdrängt werden.
- Trotz negativer Konsequenzen spielen die Betroffenen weiter.
Mit der geplanten Aufnahme der Computerspielsucht in die ICD geht eine Debatte weiter, die unter Forschern, Therapeuten und Gamern seit vielen Jahren geführt wird: Die Frage, ob Spielen am Computer vom harmlosen Freizeitvergnügen zur Sucht und Krankheit werden kann. Die Antwort darauf ist keineswegs klar.
Es war gut, dass die WHO nicht zu schnell gehandelt hat.
Franz Eidenbenz hält den Schritt der WHO für richtig. Der Psychotherapeut beschäftigt sich seit langem mit Computerspielsucht und leitet die Behandlung am Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte Radix in Zürich. «Es war gut, dass die WHO nicht zu schnell gehandelt hat und voreilig etwas zur Sucht erklärt hat. Aber nach all den Jahren ist klar, dass es ein ernsthaftes Thema ist, das immer mehr an Bedeutung gewinnt.»
Das sehen nicht alle so. In einem Artikel der Fachzeitschrift «Journal of Behavioral Addiction» haben über zwei Dutzend Forscherinnen und Forscher die Pläne der WHO kritisiert. Sie bemängeln den bescheidenen Forschungstand zur Computerspielsucht und stellen die Diagnose «Gaming Disorder» als solche in Frage. Denn Fallstudien hätten gezeigt, dass problematisches Spielverhalten oft als Begleiterkrankung anderer Störungen auftrete. Es könnte sich dabei bloss um eine Bewältigungsstrategie handeln, um einen «Coping Mechanism».
Für Franz Eidenbenz hat dieser Einwand Gewicht. Tatsächlich finde man in der Arbeit mit Betroffenen immer tiefer liegende Ursachen, die eine Sucht entstehen lassen. Aber ganz stichhaltig ist das Argument für ihn trotzdem nicht: «Beim Alkohol ist es dasselbe – und trotzdem redet man von einem Alkoholiker, obwohl auch dort die eigentliche Ursache der Sucht nicht der Alkohol ist.»
Doch die Forscherinnen und Forscher haben noch weitere Bedenken. Unter anderem befürchten sie, dass sich die Behandlung von Betroffenen verschlechtern könne, wenn komplexe Krankheitsbilder künftig unter dem Begriff «Gaming Disorder» zusammengefasst werden. Und die grosse Masse der Gamer, die kein auffälliges Spielverhalten zeigen, könne durch den Entscheid der WHO stigmatisiert werden – ohne dass die wissenschaftliche Faktenlage ein solches Vorgehen rechtfertige.
Dem widerspricht Franz Eidenbenz nicht. Auch er ist der Meinung, dass in der Forschung zur Computerspielsucht noch einiges unklar ist. Trotzdem kämen die Pläne der WHO zum richtigen Zeitpunkt: «Die digitale Entwicklung läuft so schnell, dass wir keine 20 Jahre warten können, bis jedes Detail geklärt ist. Es ist genau so falsch, zu spät zu kommen, wie wenn man vorauseilt», stellt der Psychotherapeut fest.
Die Gameindustrie versteht es heute besser denn je, die Spieler mit ausgeklügelten Spielmechaniken vor dem Bildschirm zu halten. Durchaus auch im Interesse ihrer Kunden – schliesslich will niemand Geld für ein langweiliges Game ausgeben. Doch immer öfter kommen auch Belohnungssysteme zum Einsatz, die gezielt Abhängigkeitstendenzen ausnutzen. Sogenannte Loot-Boxen zum Beispiel, die gegen Bezahlung zufällige Inhalte ausspucken, sind von ihrer Mechanik und Aufmachung her nicht weit vom klassischen Glücksspiel entfernt.
Wir haben jede Woche mindestens eine Anfrage zu dieser Thematik.
Die Frage bleibt, wie viele Spieler tatsächlich ein problematisches Spielverhalten an den Tag legen. Täglich sitzen weltweit hunderte Millionen Menschen spielend vor dem Bildschirm. Gamen gehört für viele ebenso zur Freizeit wie Sport oder Kinobesuche. Aufsehenerregende Meldungen von Leuten, die bis zur völligen Selbstaufgabe vor dem Bildschirm sitzen, sind kaum mehr als bedauerliche Einzelfälle. Wenn man aber davon ausgeht, dass nur 1 Prozent der Gamerinnen und Gamer an einer Computerspielsucht leiden, handelt es sich dabei doch um Millionen von Betroffenen.
Für die Schweiz gibt es keine genauen Zahlen. In Studien zum Medienverhalten wird oft nicht zwischen allgemeiner Onlinesucht und Computerspielsucht unterschieden. Fest steht, dass Gamen gerade bei Teenagern eine weit verbreitete Aktivität ist. Laut der James-Studie 2016 spielen unter den 12- bis 19-Jährigen Jugendlichen 91 Prozent der Jungen und 42 Prozent der Mädchen zumindest gelegentlich Computerspiele.
«Wir haben im Zentrum für Spielsucht jede Woche mindestens eine Anfrage zur Computerspielsucht», sagt Franz Eidenbenz. Seit dem Siegeszug des Smartphones habe sich die Situation verschärft. Unter den Betroffenen seinen vor allem männliche Jugendliche. Dort wirken noch die Eltern als Kontrollfaktor. Erwachsenen sei es leichter möglich, ihre Probleme zu verstecken: «Solange jemand genug Geld verdient und seine Miete bezahlt, kann der Game-Konsum leicht ausarten.»
Krankenkassen zahlen heute schon
Die Aufnahme der «Gaming Disorder» in die IDC-11 könnte solchen Menschen helfen. Mit der offiziellen Anerkennung als Krankheit würde die Öffentlichkeit für das Thema sensibilisiert. Wissenschaftler könnten mit mehr Geldern für die Therapieforschung rechnen. Und der Bund könnte Präventionskampagnen starten. «Betroffene und ihre Angehörigen bekämen auch die Gewissheit, mit ihren Problemen nicht alleine zu sein», ergänzt Franz Eidenbenz.
Bei den Therapiebeiträgen der Krankenkassen würde sich laut Krankenversicherungsverband Santésuisse dagegen nichts ändern. Computerspielsucht könne schon heute von den Krankenkassen übernommen werden, weil sie sich nicht von anderen Suchtkrankheiten unterscheide, erklärt Santésuisse-Sprecher Christophe Kaempf auf Anfrage von SRF Digital.
Denn dem Gesetz nach gilt als Krankheit «jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist und die eine medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat.»
Völlige Abstinenz ist nicht möglich
In leichten Fällen kann eine Therapie schon nach drei bis vier Sitzungen Erfolg haben, weiss Franz Eidenbenz. In schwereren Fällen dauert es ein Jahr oder länger. Im Gegensatz zu anderen Süchten können die Betroffenen danach nicht einfach abstinent leben, dazu sind Smartphones und Computer im Alltag zu verbreitet.
Bei einer leichten Game-Sucht kann sich jemand nach der Therapie deshalb ab und zu wieder ans Spielen wagen. Anders sieht es bei einer starken Abhängigkeit von einem bestimmten Titel aus: «Dann muss dieses Game in Zukunft unbedingt vermieden werden».